„Schau mal an, Anja. Eine Hilfe suchende Frau auf dem Weg zu uns”, sprach Dr. Werner gedankenverloren, während er aus dem Fenster blickte. „Was? Nein, mache Dir da keine Sorgen, Anja. Du bist und bleibst hier an erster Stelle, verstehst du?”
Dr. Werner setzte das Schädelpräparat sanft auf die Fensterbank zurück und zupfte sich seinen weißen Kittel zurecht. „Dieses Haar, ihr gestresster Ausdruck; ich werde mich direkt um sie kümmern müssen, Anja. So jemanden hatten wir länger nicht, meinst du nicht auch?”, sagte er an den Schädel gewandt.
Mit der rechten Hand streichelte er über seine Anja und setzte sich hinter den Schreibtisch und griff zum Telefonhörer. „Die junge Dame mit den langen, braunen Haaren… ja, sie müsste jetzt gleich reinkommen – ich möchte sie bitte direkt sehen”, sprach er in seine Gegensprechanlage, “Ja, dann müssen die anderen eben warten! Ich erwarte die Dame bereits”, log er.
Ella zögerte einen Moment, bevor sie die Tür der kieferorthopädischen Praxis öffnete. Schweißperlen blitzen auf ihrer Stirn, während sie die ersten Schritte ins Gebäudeinnere setzte. Der Weg bis hierhin war eine reine Tortur gewesen. Über den Busbahnhof und über den Marktplatz musste sie gehen – weite, offene Plätze mochte sie gar nicht. Zurück würde sie sich ein Taxi nehmen, schwor sie sich. Heute morgen war so schnell keines verfügbar gewesen und das Bedürfnis, den Schmerz in ihrem Kieferknochen loszuwerden, war größer als ihre Agoraphobie.
Am Empfangstresen wischte sie sich den kalten Schweiß von der Stirn und kramte in ihrer Brieftasche nach der Versichertenkarte. „Hallo, mein Name ist Ella…”, setzte sie an.
„Herzlich willkommen – Dr. Werner weiß bereits Bescheid, Sie können direkt in das Behandlungszimmer gehen”, unterbrach sie die Sprechstundenhilfe.
„Oh, das ist… nett. Ja, dann vielen Dank!”, antwortete Ella verdutzt und machte sich auf in die angedeutete Richtung.
Der Flur war angenehm schmal, die Türen geschlossen. Das mochte sie, trotzdem stieg ein mulmiges Gefühl in ihr hoch. Das dämmrige Licht dieses fensterlosen Gangs, der Geruch nach Desinfektionsmitteln und lärmende Kinder – vermutlich aus dem Wartezimmer – sorgten für mehr Beklemmung als ihr lieb war. Nach wenigen Schritten erreichte sie das Behandlungszimmer, ein attraktiver junger Mann im weißen Kittel öffnete die Tür. Das Namensschild an seiner Brusttasche verriet: Das war Dr. Werner.
Der Kieferorthopäde war gerade mal Mitte Dreißig, schätzte sie. Er hatte einen eindringlichen, stechenden Blick, mit dem er ihren Kiefer augenblicklich begutachtete.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz. Was fehlt Ihnen denn?”, sprach er in ruhigem Ton.
Ella versuchte, ihre Überraschung über die direkte Ansprache zu verbergen und tat, wie ihr geheißen. Er war schließlich ein Fachmann – und sie wollte ihre Schmerzen loswerden. Das Kunstleder des Behandlungsstuhls quietschte, als sie auf ihm Platz nahm und anfing, ihre aktuellen Probleme zu schildern.
Dr. Werner hörte interessiert zu. Während er seine Instrumente auf dem Tablett neben ihr zurechtlegte, bemerkte Ella, wie er ihr Haar genauer betrachtete. Sie fragte sich, ob sie sich das einbildete und er in Wirklichkeit ihren Kieferknochen begutachtete. Ja, so musste das sein – sie schob alle negativen Gedanken beiseite.
„Na dann wollen wir mal schauen, was wir tun können”, sagte sich der Doktor, „Von außen ist erstmal nichts Auffälliges zu sehen, Sie haben ein wunderschön proportioniertes Gesicht”, lächelte er sie an. „Sie sind zum ersten Mal hier in der Praxis, nicht wahr?”
„Ja, das stimmt. Dr. Beckers hat mich geschickt, er vermutet ein Problem am unteren, linken Kieferknochen als Ursache für meine Schmerzen.”
„Da können wir beide Dr. Beckers ja dankbar sein”, Dr. Werners Hand griff überraschend an ihr Kinn. Er machte einige Bewegungen und beobachtete ihren Kiefer und ihre Reaktionen dabei ganz genau. Immer wieder trafen sich ihre Blicke.
Ellas Hände umklammerten die Armlehnen des Behandlungsstuhls, bis sie das Metall unter dem Polster spüren konnte. Gerade als Ella die Situation zu unangenehm zu werden drohte, holte der Kieferorthopäde tief Luft: „Wenn ich mir das hier hinten links so anschaue, könnte da das Problem liegen.”
Dr. Werner wandte sich ab und ihre Finger entspannten sich. Der Doktor nahm eine Dose Tabletten von seinem Schreibtisch. „Wir werden das mit einer durchsichtigen Zahnspange vermutlich schnell wieder hinbekommen. Eine einfache Fehlstellung, das kann sich mit den Jahren schonmal schleichend entwickeln, bis man es bemerkt”, führte er aus, ohne dass Ella Rückfragen stellen konnte. „Wir machen zur Sicherheit eine Röntgenaufnahme. Für die akuten Schmerzen nehmen Sie bitte diese Pillen. Da können Sie sich den Weg zur Apotheke sparen.”
Ella nahm die Dose an sich; neben ihr zischte ein Wasserhahn. Dr. Werner füllte einen Plastikbecher mit Wasser.
„Die erste direkt jetzt; den Rest dann jeweils abends, bis die Packung leer ist.”
Ella nahm einen tiefen Schluck und hievte sich aus dem Behandlungsstuhl.
„Bitte hier durch die Tür und auf den Hocker. Meine Kollegin wird gleich die Aufnahmen machen”, bat der Doktor sie in einen Nebenraum.
Er schloss die Tür hinter ihr.
Dann wurde ihr schummrig und sie ließ die Tablettendose fallen. Bevor ihr schwarz vor Augen wurde, sah sie, wie sich die Tür wieder öffnete und Dr. Werner die Dose vom Boden hob.
„Die brauchst du erstmal nicht mehr, meine Liebe.”
Dieser Text entstand als Hausaufgabe während meines Fernstudiums an der Schule des Schreibens. Da dieser Text unabhängig von meinem Romanprojekt entstand, möchte ich ihn hier mit euch teilen.