Ellis Apfelkuchen

„Wer schleicht denn da draußen wieder rum? Der guckt ja wie sieben Tage Regenwetter”, sagte Elli und deutete durch die mit Tropfen behangenen Scheiben nach draußen.

„Der mit der Mappe? Dat is der Schembeck, macht jetzt die Sicherheit. Scheint nich gut zu laufen, so wie der guckt”, antwortete ein dicklicher Mann in verölter Arbeitskleidung als er ein Stück Apfelkuchen von Elli nahm. Aus der Schlange war Kichern zu hören.

Elli war seit drei Jahren stolze Besitzerin einer kleinen Imbissbude auf dem Werksgelände der Schmalmeier Stahl GmbH. Ihr Angebot an klassischer Currywurst mit Pommes oder im Brötchen war bei den Arbeitern genauso beliebt wie ihr selbst gebackener Apfelkuchen, den sie vor einigen Monaten in ihr Angebot aufgenommen hatte.

„Stimmt so, Elli”, sagte der nächste Kunde, als er einen Fünf-Euro-Schein auf die Theke legte und sein Stück Kuchen nahm. „Der Kuchen war die beste Idee, die du je hattest. Der macht deinen Laden echt besonders.”

„Danke Hermann, ich geb mein Bestes”, erwiderte Elli.

Die Eingangstür des kleinen Imbisscontainers quietschte. Das Lachen verstummte. Tim, der Neue, trat ein und nickte den Anwesenden ernst zu. Bis sich die Tür wieder langsam schloss, war nur das Plätschern des Regens auf den Asphalt des Werksgeländes zu hören. Die hagere Gestalt mit zur Seite gekämmten Haaren und Dreitagebart schob sich in leicht gebeugter Haltung an der Warteschlange vorbei. Die Brille drohte ihm von der Nasenspitze zu rutschen.

„Mein Lieber, hier bist du genau richtig, um dir ein wenig die Laune aufzuhellen bei diesem Schietwetter. Für Neue gibts hier einen kleinen Rabatt auf den Kuchen”, sagte Elli in die Richtung des durchnässten Sicherheitsbeauftragten. „Wirst dich aber noch kurz gedulden müssen. Wie du siehst, stehen die Männer bei mir Schlange”, ergänzte sie und fuhr sich betont süffisant durchs Haar. Einer aus der Warteschlange lachte dreckig.

„Morgen. Machen Sie sich keine Sorge, ich kann warten, aber will aktuell sowieso nichts zu essen”, sagte der Mann und deutete mit dem Zeigefinger auf das Schild an seiner Jacke. „Ich bin Tim Schembeck und mache nun die Sicherheit- und Hygieneprüfungen auf diesem Teil des Geländes. Dürfte ich bitte mal ihren Werksausweis, Betriebsgenehmigung für den Imbiss und die aktuelle Standerlaubnis sehen? Dann setze ich mich einfach an einen der Tische und arbeite das schnell durch.” Tim nahm seine nasse Brille ab und trocknete sie am Saum seiner Jacke.

„Oh, du kommst schnell zur Sache, was? Aber alles klar, habe alles hier. Einen Moment”, Elli verdrehte leicht die Augen und holte einen großen Ordner aus ihrem kleinen Pausenraum hinter der Küche. „Hier, bitte. Und nun zurück zu euch”, wandte Elli sich wieder der Schlange vor ihrer Theke zu.

Eine gute Stunde war das Rascheln von Blättern, das Seufzen von Tim und das Kratzen seines Kugelschreibers auf dem vor ihm ausgelegten Papier zu hören. Die Arbeiter hatten inzwischen Ellis Container verlassen und hatten sich wieder ihren Tätigkeiten zugewendet. Elli ließ Wasser in das Spülbecken und kümmerte sich um das dreckige Geschirr.

„Sooo”, begann Tim unvermittelt, „mir scheint wir haben hier ein Problem, Frau Dombrowski. Den Kuchen, den sie hier backen und verkaufen: Dafür haben sie gar keine Genehmigung. Das hier ist ein Imbiss für warme Speisen; zum Aufwärmen von Speisen, um genauer zu sein. Zubereitung von Fertigprodukten. Oder con-ve-ni-ence food, wie man Neudeutsch sagt.”

„Was soll das bedeuten, mein Lieber?”

Tim verdrehte die Augen: „Dass die Verarbeitung von Grund- und Rohzutaten hier nicht gestattet ist; und es würde mich wundern, wenn die Zutaten über die Logistik des Werkes beschafft werden können. Wenn doch, muss ich da wohl auch nochmal ein ernstes Wörtchen mit denen Reden. Die Zubereitung und der Verkauf von Backwaren sind fortan zu unterlassen.”

Tim haute die Unterseite seines Kugelschreibers auf den Tisch, um ihn einzufahren und drehte demonstrativ einen Zettel Richtung Elli. „Kommenden Montag werde ich erneut prüfen. Bis dahin haben Sie Zeit, das Angebotssortiment entsprechend anzupassen.”

„Nein, keine Logistik, die Sachen für den Kuchen bringe ich mit – das sind Äpfel von meinem Schwager. Was soll denn das? Das war bisher nie ein Problem, wenn der Holger hier kontrolliert hat. Hier probieren sie doch erst einmal”, Elli griff vor sich in den Tresen und holte ein großes Stück Apfelkuchen hervor, brachte es Tim an den Tisch, der sich gerade seine Jacke wieder anzog.

„Holger ist aber nicht mehr da”, sagte Tim genervt und traf mit dem Ärmel seiner Jacke unbeabsichtigt den Teller auf Ellis Arm. Der Teller knallte auf den Tisch und der Kuchen landete mitten auf den Unterlagen und Tims Schreibmappe, eine dünne Schicht Puderzucker verteilte sich darauf.

„Passen sie doch auf, verdammt!”, entfuhr es Tim.

Die sonst so schlagfertige Hobbybäckerin wusste spontan nichts zu erwidern und stand verdattert da. Der Kontrolleur stand auf: „Denken Sie dran: Nächsten Montag.“, er knallte die Tür hinter sich zu.

Elli stand einige Minuten vor den nach Apfelkuchen riechenden Akten. Dann schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. „Was ein Arschloch!”, platzte es aus ihr heraus.

Als die Abenddämmerung hereinbrach, schloss Elli die Imbissbude und machte sich auf den Weg zur S-Bahn, um nach Hause zu fahren. Sie war noch immer verärgert über das Auftreten des Kontrolleurs und seine Pedanterie. Mit Papierkram hatte sie nie viel zu tun gehabt, sie hatte keine Ahnung, was sie nun tun sollte. Ohne den Kuchen würde sie niemals über die Runden kommen.

Unter lautem Quietschen hielt die S7 am Bahnsteig und sie stieg ein. Durch das Gedränge der anderen Pendler fiel ihr Blick direkt auf ein bekanntes Gesicht im hinteren Teil des Wagens. Diese dünne Gestalt mit der ungesund gebeugten Haltung und den hängenden Schultern, die kannte sie doch. Es war Tim. Er saß dort wie ein Häufchen Elend: Allein an einer Vierer-Sitzgruppe, den Blick leer auf den Boden gerichtet. Seine Haltung verriet pure Erschöpfung und Niedergeschlagenheit.

Elli zögerte kurz, aber Sitzplätze waren rar und gestanden hatte sie schon den ganzen Tag. Sie setzte sich neben ihn. Er schaute mit erröteten Augen auf und dann sofort aus dem Fenster.

„Frau Dombrowski?”, fragte er überrascht.

„Hallo”, sagte sie. Und bei seinem Anblick konnte sie es sich nicht verkneifen: „Ach, auch einen schweren Tag gehabt?”

Er atmete tief durch und schaute aus dem Fenster. Der Regen hatte noch immer nicht aufgehört. „Ja, es war wahrlich kein guter Tag. Aber nicht wegen der Arbeit. Private Probleme, meine Frau und ich, wir… ach – es ist kompliziert.”

Elli blickte überrascht auf den Hinterkopf des harten Kontrolleurs; in der Spiegelung der Scheibe glaubte sie, Tränen in seinen Augen zu erkennen. Sie griff instinktiv in ihre Tasche und kramte ein Stück in Alufolie gepacktes Stück Apfelkuchen hervor. Der Duft von süßlichem Apfel erfüllte die Sitzgruppe. Knisternd faltete sie die Folie beiseite und reichte ihm das Stück Kuchen. Tim nahm es wortlos und ohne sie direkt anzuschauen. Er nahm mehrere Bissen.

Nach zwei Stationen des wortlosen Nebeneinandersitzens musste Elli raus. „Das wird schon wieder, sowas habe ich auch schon hinter mir”, sagte sie in Tims Richtung und ergänzte: „Der Verzehr von Speisen ist in der Bahn übrigens verboten.”

Tim rang sich ein Lächeln ab.

Über eine Woche hörte Elli nichts mehr von Tim. Insgeheim hoffte sie, dass er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen würde. Aber dann war es Montag und an den hungrigen Gesichter der vor ihr stehenden Arbeiter vorbei, sah sie Tim vor dem Imbiss aus seinem Auto steigen. Er trug eine Schreibmappe unter dem Arm.

„Was ist los, Elli? Hast du ein Gespenst gesehen?”, erkundigte sich ein schlaksiger Mann im Blaumann.

„Äh, was? Nein, ach es ist nur… so hier, ein Kaffee. Lass ihn dir schmecken!”, fertigte Elli den Kunden ab, ohne ihren Blick von Tim und seiner Schreibmappe zu nehmen.

Die Tür schwankte auf und er betrat den Laden mit ernster Miene. Er nestelte zwei Blätter aus der Mappe und knallte sie Elli auf den Tresen. „Das hat nun ein Ende”, schaute er sie ernst an.

Elli blickte auf die Zettel: “Genehmigung nach Betriebskantinenverordnung: Verarbeitung und Vertrieb von Lebensmitteln aus Eigenproduktion.”

Sie blickte verwirrt auf. „Was bedeutet das?“
„Dass Sie jetzt eine Genehmigung haben, Kuchen anzubieten.“
Elli fiel ein Stein vom Herzen. Die Arbeiter in der Warteschlange stießen sich an.

„Einen Apfelkuchen bitte”, lächelte Tim sie an.

Kreatives Schreiben mit Tarot-Methode

Ich hatte vergangene Woche einen Tag frei und habe die Zeit für ein wenig kreatives Schreiben und die nächste Aufgabe meines Schreiblehrgangs genutzt. Dabei habe ich auf eine Methode aus dem Projektheft mit Kreativmethoden zurückgegriffen: Plotten mit Tarot-Karten. Zu Grunde liegt dabei ein definiertes Muster, was die Position der Karten bestimmten Rollen bzw. Situationen zuordnet. Anschließend nimmt man ein Deck Tarot-Karten (ehrlicherweise weiss ich nicht, ob es irgendwelche Unterschiede zwischen verschiedenen Decks gibt, ich habe das erste Deck, was ich besorgen konnte, genommen), mischt es durch und legt sieben Karten von links oben nach rechts unten der Reihe nach aus. Das war mein Ergebnis:

Dann habe ich darüber ein wenig gebrainstormt und kam nach ein paar Iterationen über entstandene Ideen auf folgendes Ergebnis (für die Aufgabe war das historische Setting „Italien des 14. Jahrhunderts“ vorgegeben):

  • The Magician: Ein Universalgelehrter im 14. Jahrhundert mit dem Namen Francesco Scopuli
  • The Tower: Adel – vor einigen Jahren entstand eine Freundschaft zu einem Grafen
  • The Emperor: Der Graf, der Scopuli zu sich eingeladen hat, um ihm etwas zu zeigen
  • The Fool: Ein Dienstjunge des Grafen, der Scopuli vor Ort unterstützen wird
  • Death: Der Graf ist kurz vor dem Eintrefen von Scopuli verstorben
  • The Devil: Es handelt sich nicht um einen natürlich Tod – der Graf wurde ermordet
  • Judgement: Scopuli kommt zusammen mit dem Dienstjungen dem Mörder auf die Spur und gibt der Polizei die nötigen Hinweise

Entstanden ist die folgende Szene, in welcher Scopuli dem Gegenstand begegnet, der irgendwie mit dem Tod des Grafen in Verbindung steht. Viel Vergnügen bei der Lektüre!


„Bitte, das ist das Geringste, was ich Ihnen anbieten kann, Signore Scopuli“, fuhr die Hausverwalterin fort, „dann war Ihre Anreise, trotz der schrecklichen Umstände, nicht völlig umsonst. Der Graf hätte es so gewollt.“

„Sie haben mich überzeugt“, Scopuli legte beiläufig die Hand über sein Glas und vermittelte damit dem jungen Bediensteten, dass er keinen Rotwein mehr wünschte. „Solange die Carabinieri hier sowieso niemanden vom Anwesen lassen, scheint es mir am sinnvollsten, mir anzuschauen, was der Graf – Gott habe ihn selig – mir so Aufregendes zeigen wollte.“

„Sehr gerne. Bitte lassen Sie es Leandro wissen, sobald Sie mit dem Speisen fertig sind. Während Ihres Aufenthalts steht Ihnen ein Zimmer im ersten Stock zur Verfügung. Leandro wird es Ihnen heute Abend vorbereiten“, sagte die ältere Dame und warf dem Bediensteten einen strengen Blick zu, „Ich wünsche trotz allem einen angenehmen Aufenthalt.“

Das Anwesen des vergangene Nacht verstorbenen Grafen war imposant. Die hohen steinernen Wände des Speisesaals verliehen dem Raum eine erdrückende Schwere. Große Bogenfenster erstreckten sich an einer Seite des Raumes, durch die das spärliche Licht des verregneten Tages einfiel. Regentropfen, die von außen auf die Schreibe klatschten, warfen gespenstische Schatten auf das dunkle Parkett, das bei jedem Schritt der Bediensteten leise knarrte. „Der passende Ort für einen mysteriösen Todesfall“, dachte Scopuli und sagte zum Dienstjungen: „Ich würde nun gerne dieses Gemälde ansehen.“

„Aber natürlich, Signore, folgen Sie mir bitte in den Garten“, erwiderte der Junge mit einem Zittern in der Stimme.

Das eindrucksvolle Gewächshaus, in dem sich das besagte Gemälde befand, lag am Rande des weitläufigen Gartens, umgeben von hohen, verschlungenen Hecken und uralten Bäumen, deren knorrige Äste wie ausgestreckte Arme im Wind schwankten. Scopuli und Leandro betraten das Glasgebäude durch eine schwere, eiserne Tür, die quietschte, als wäre sie seit Jahren nicht mehr geöffnet worden.

Das Innere des Gewächshauses war eine Mischung aus exotischen Pflanzen und blühenden Blumen, deren Farben und Formen eine überwältigende Vielfalt boten. Unbekannte Düfte drangen ins Bewusstsein Scopulis; eine angenehme Abwechslung zu der schweren, moosigen Luft in dem Anwesen. In der Mitte des Raumes hing das mysteriöse Gemälde, das der Graf vor seinem plötzlichen Ableben ihm unbedingt hatte zeigen wollen. Das Bild zeigte eine düstere Szenerie: Eine einsame Gestalt, die in einer stürmischen Nacht vor einer imposanten, gotischen Kathedrale stand, umgeben von teuflischen Kreaturen, die aus den Schatten hervorzukriechen schienen.

„Diese Person“, entfuhr es dem Dienstjungen plötzlich, „die war vorher noch nicht da!“

Scopuli trat näher heran, um das Kunstwerk genauer zu betrachten, als ihm auffiel, dass der Boden rund um das Gemälde mit toten Insekten und kleineren Tieren übersät war. Ihre leblosen Körper lagen in grotesken Haltungen, als hätten sie in ihrem Todeskampf noch versucht, sich von der unheimlichen Darstellung auf der Leinwand zu entfernen. Er konnte nicht anders, als ein Schaudern zu unterdrücken, das ihm den Rücken hinunterlief.

„Leandro, haben Sie das gesehen?“, fragte Scopuli und zeigte auf die toten Tiere.

Der Junge reagierte nicht, sondern starrte wortlos auf das Gemälde vor ihnen.

„Leandro? Was ist los? Was haben Sie geseh-„, Scopuli verstummte als Leandro den Arm hob und auf die Figur auf dem Gemälde zeigte. „Ist das… ist das der Graf? Alfredo?“, Scopuli trat näher an das Gemälde heran. Die toten Insekten knackten unter seinen Schuhen. Er vernahm einen stechenden Geruch. „Das ist er! Und die Farbe dieser Person ist noch frisch! Das kann man riechen und sehen!“

Die beiden tauschten besorgte Blicke aus, das Gewächshaus wirkte noch bedrohlicher als zuvor. Als sie sich umdrehten, um den Carabinieri Bescheid zu geben, bemerkten sie, dass die schwere, eiserne Tür hinter ihnen zugefallen war. Ein Schatten zeichnete sich hinter den Glasscheiben des Gewächshauses ab, entfernte sich rasch in den Regenschauer und verschwand noch bevor Scopuli einen genaueren Blick erhaschen konnte.

Thriller-Fragment: Kieferorthopäde

„Schau mal an, Anja. Eine Hilfe suchende Frau auf dem Weg zu uns”, sprach Dr. Werner gedankenverloren, während er aus dem Fenster blickte. „Was? Nein, mache Dir da keine Sorgen, Anja. Du bist und bleibst hier an erster Stelle, verstehst du?”

Dr. Werner setzte das Schädelpräparat sanft auf die Fensterbank zurück und zupfte sich seinen weißen Kittel zurecht. „Dieses Haar, ihr gestresster Ausdruck; ich werde mich direkt um sie kümmern müssen, Anja. So jemanden hatten wir länger nicht, meinst du nicht auch?”, sagte er an den Schädel gewandt.

Mit der rechten Hand streichelte er über seine Anja und setzte sich hinter den Schreibtisch und griff zum Telefonhörer. „Die junge Dame mit den langen, braunen Haaren… ja, sie müsste jetzt gleich reinkommen – ich möchte sie bitte direkt sehen”, sprach er in seine Gegensprechanlage, “Ja, dann müssen die anderen eben warten! Ich erwarte die Dame bereits”, log er.

Ella zögerte einen Moment, bevor sie die Tür der kieferorthopädischen Praxis öffnete. Schweißperlen blitzen auf ihrer Stirn, während sie die ersten Schritte ins Gebäudeinnere setzte. Der Weg bis hierhin war eine reine Tortur gewesen. Über den Busbahnhof und über den Marktplatz musste sie gehen – weite, offene Plätze mochte sie gar nicht. Zurück würde sie sich ein Taxi nehmen, schwor sie sich. Heute morgen war so schnell keines verfügbar gewesen und das Bedürfnis, den Schmerz in ihrem Kieferknochen loszuwerden, war größer als ihre Agoraphobie.

Am Empfangstresen wischte sie sich den kalten Schweiß von der Stirn und kramte in ihrer Brieftasche nach der Versichertenkarte. „Hallo, mein Name ist Ella…”, setzte sie an.

„Herzlich willkommen – Dr. Werner weiß bereits Bescheid, Sie können direkt in das Behandlungszimmer gehen”, unterbrach sie die Sprechstundenhilfe.

„Oh, das ist… nett. Ja, dann vielen Dank!”, antwortete Ella verdutzt und machte sich auf in die angedeutete Richtung.

Der Flur war angenehm schmal, die Türen geschlossen. Das mochte sie, trotzdem stieg ein mulmiges Gefühl in ihr hoch. Das dämmrige Licht dieses fensterlosen Gangs, der Geruch nach Desinfektionsmitteln und lärmende Kinder – vermutlich aus dem Wartezimmer – sorgten für mehr Beklemmung als ihr lieb war. Nach wenigen Schritten erreichte sie das Behandlungszimmer, ein attraktiver junger Mann im weißen Kittel öffnete die Tür. Das Namensschild an seiner Brusttasche verriet: Das war Dr. Werner.

Der Kieferorthopäde war gerade mal Mitte Dreißig, schätzte sie.  Er hatte einen eindringlichen, stechenden Blick, mit dem er ihren Kiefer augenblicklich begutachtete.

„Bitte, nehmen Sie doch Platz. Was fehlt Ihnen denn?”, sprach er in ruhigem Ton.

Ella versuchte, ihre Überraschung über die direkte Ansprache zu verbergen und tat, wie ihr geheißen. Er war schließlich ein Fachmann – und sie wollte ihre Schmerzen loswerden. Das Kunstleder des Behandlungsstuhls quietschte, als sie auf ihm Platz nahm und anfing, ihre aktuellen Probleme zu schildern.

Dr. Werner hörte interessiert zu. Während er seine Instrumente auf dem Tablett neben ihr zurechtlegte, bemerkte Ella, wie er ihr Haar genauer betrachtete. Sie fragte sich, ob sie sich das einbildete und er in Wirklichkeit ihren Kieferknochen begutachtete. Ja, so musste das sein – sie schob alle negativen Gedanken beiseite.

„Na dann wollen wir mal schauen, was wir tun können”, sagte sich der Doktor, „Von außen ist erstmal nichts Auffälliges zu sehen, Sie haben ein wunderschön proportioniertes Gesicht”, lächelte er sie an. „Sie sind zum ersten Mal hier in der Praxis, nicht wahr?”

„Ja, das stimmt. Dr. Beckers hat mich geschickt, er vermutet ein Problem am unteren, linken Kieferknochen als Ursache für meine Schmerzen.”

„Da können wir beide Dr. Beckers ja dankbar sein”, Dr. Werners Hand griff überraschend an ihr Kinn. Er machte einige Bewegungen und beobachtete ihren Kiefer und ihre Reaktionen dabei ganz genau. Immer wieder trafen sich ihre Blicke.

Ellas Hände umklammerten die Armlehnen des Behandlungsstuhls, bis sie das Metall unter dem Polster spüren konnte. Gerade als Ella die Situation zu unangenehm zu werden drohte, holte der Kieferorthopäde tief Luft: „Wenn ich mir das hier hinten links so anschaue, könnte da das Problem liegen.”

Dr. Werner wandte sich ab und ihre Finger entspannten sich. Der Doktor nahm eine Dose Tabletten von seinem Schreibtisch. „Wir werden das mit einer durchsichtigen Zahnspange vermutlich schnell wieder hinbekommen. Eine einfache Fehlstellung, das kann sich mit den Jahren schonmal schleichend entwickeln, bis man es bemerkt”, führte er aus, ohne dass Ella Rückfragen stellen konnte. „Wir machen zur Sicherheit eine Röntgenaufnahme. Für die akuten Schmerzen nehmen Sie bitte diese Pillen. Da können Sie sich den Weg zur Apotheke sparen.”

Ella nahm die Dose an sich; neben ihr zischte ein Wasserhahn. Dr. Werner füllte einen Plastikbecher mit Wasser.

„Die erste direkt jetzt; den Rest dann jeweils abends, bis die Packung leer ist.”

Ella nahm einen tiefen Schluck und hievte sich aus dem Behandlungsstuhl.

„Bitte hier durch die Tür und auf den Hocker. Meine Kollegin wird gleich die Aufnahmen machen”, bat der Doktor sie in einen Nebenraum.

Er schloss die Tür hinter ihr.

Dann wurde ihr schummrig und sie ließ die Tablettendose fallen. Bevor ihr schwarz vor Augen wurde, sah sie, wie sich die Tür wieder öffnete und Dr. Werner die Dose vom Boden hob.

„Die brauchst du erstmal nicht mehr, meine Liebe.”

Dieser Text entstand als Hausaufgabe während meines Fernstudiums an der Schule des Schreibens. Da dieser Text unabhängig von meinem Romanprojekt entstand, möchte ich ihn hier mit euch teilen.

Textfragment: Gerichtsverhandlung

„Ich habe es für meine Familie getan!”, platzte es aus ihr heraus. Der Tag des Anrufs war Anne noch ganz genau im Gedächtnis. Sie hatte ihre Familie verteidigt. Den Instinkten einer Mutter, die ihr Kind beschützen will, nachgegeben. Sie hatte nichts Falsches getan, war sich keiner Schuld bewusst.

Es herrschte Totenstille im Gerichtssaal.

Sven atmete einmal tief ein. Das war ein Schuldeingeständnis seiner Mandantin, soviel war klar . Jetzt musste er in die Offensive gehen. „Was haben Sie für Ihre Familie getan? Und warum? Bitte schildern Sie uns was passiert ist”, sagte er und warf dem Richter einen Blick zu. Dieser nickte.

Seine Mandantin nahm eine aufrechte Haltung ein und begann zu berichten.

„Am Tag, an dem es passiert ist, habe ich einen Anruf erhalten. Sie haben mit der Ermordung meines Sohnes gedroht! Mein süßer Junge! Sie wollten irgendeinen Schließfachschlüssel“, setzte sie an.

„Wer sind ‘sie’?”, warf die Staatsanwältin in den Raum und erntete dafür einen strengen Blick des Richters: „Bitte, Frau Meier, lassen sie die Angeklagte erstmal aussprechen.”

„Nach allem, was ich bisher wusste, konnte ich niemandem trauen. Außerdem sagten sie, mein Junge würde sterben, sollte ich die Polizei oder irgendwen sonst informieren! Also tat ich das Beste, was mir in dem Moment einfiel: Ich rief die Nummer zurück und behauptete, den Schlüssel gefunden zu haben. Das hatte ich natürlich nicht, aber wie sollte ich sonst an meinen Jungen kommen?”, der gesamte Gerichtssaal klebte an ihren Lippen. „Der Erpresser nannte mir daraufhin Uhrzeit und Ort für eine Übergabe”, sie schluchzte.

„Die Autobahnraststätte Leucht, ist das richtig?”, erkundigte sich der Richter. „Ja, das ist korrekt. Ich habe einen unserer Garagenschlüssel eingesteckt – ich hatte ja sonst nichts, was ich ihnen anbieten konnte! Dann habe ich mich um kurz vor 22 Uhr auf den Weg gemacht.”

„Und der Verstorbene – der vermeintliche Anrufer – befand sich wie abgesprochen auf dem Rastplatz? Was ist dort passiert?”, fragte die Staatsanwältin.

Sven gab seiner Mandantin zu verstehen, dass sie sich nicht selbst belasten müsse und sie hier abbrechen könne, wenn sie wollte. Anne jedoch winkte ab und fuhr fort: „Ja, ich habe ihn schon von weitem neben seinem Auto stehen sehen. Er gab mir ein Zeichen, wollte sich scheinbar zu erkennen geben. Der Rastplatz war wie leergefegt. Und als ich näher an ihn heranfuhr, da…”, sie hielt kurz inne, „habe ich Noah gesehen. Mein Junge saß im Auto dieses Mannes! Er war wohlauf, aber hatte eine Art Knebel im Mund.”, Anne war nun sichtlich verzweifelt.

Sven legte seine Hand auf ihre Schulter und bat den Richter um eine kleine Pause.

„Nein! Ich will weiterreden!”, entfuhr es Anne.

Einige der Zuschauer im Besucherraum schreckten auf.

„Ich will sagen, was passiert ist. Ich… ich habe rotgesehen. Eine Chance, mich und meinen Sohn zu retten. Ich habe das Gaspedal durchgetreten und diesen Scheißkerl überfahren!”

Ein Raunen, gefolgt von lautem Getuschel, ging durch den Gerichtssaal.

„Ruhe bitte, ruhe bitte”, versuchte der Richter die aufgeregte Menge zu beruhigen.

Anne wirkte nun gefasster als noch kurz zuvor. „Ich habe den Scheißkerl umgefahren”, wiederholte sie.

Dieser Text entstand als Hausaufgabe während meines Fernstudiums an der Schule des Schreibens. Da dieser Text unabhängig von meinem Romanprojekt entstand, möchte ich ihn hier mit euch teilen.

Mein Schreibimpuls

Die alten Holzstufen ächzten unter meinem Gewicht, das Knacken der Treppe war im ganzen Flur zu hören. Wenn ich zu der Wohnung von Chris negative Punkte nennen sollte, dann war es vor allem die Tatsache, dass sie sich ganz oben im dritten Stockwerk befand und der Altbau sehr hohe Decken hatte.
Zwei Etagen noch. Die Bäckerei im Erdgeschoss hatte diesen Nachmittag zwar schon geschlossen, aber der Duft von frisch gebackenen Brötchen und Broten erfüllte die Luft noch immer. Genau genommen kann ich mich an keinen Besuch hier erinnern, an dem ich diesen wohligen Geruch nicht wahrgenommen habe. Die Bewohner waren ihm dauerhaft ausgesetzt und einige von ihnen verleidete er mittlerweile regelrecht den Appetit. Für mich unverständlich.
Eine Etage noch. Meine Tasche mit Unterlagen zog mich regelrecht nach unten, mit jeder Stufe spürte ich meine Oberschenkel stärker. “Das kann doch nicht sein, dass mir die paar Stufen dermaßen zu schaffen machen; da muss sich was ändern!”, dachte ich mir jedes Mal, wenn ich hier war.
Noch zwei.
Noch eine.
Geschafft! Nun einmal tief durchatmen. Durch die angelehnte Wohnungstür hörte ich schon die Stimmen von Michael und Stefan und das Knistern von Chipstüten – meine Aufregung nahm zu.

Neun Stunden später saßen wir immer noch im Wohnzimmer. Vorgebeugt über den quadratischen Tisch, der voll stand mit Getränken, Snacks, Schmierzetteln, Karten und Stiften. Bedrohliche Musik ertönte aus den Lautsprechern. Draußen war es inzwischen so dunkel, dass man den Regen nur noch durch das Geräusch mitbekam, das die auf der Fensterscheibe zerplatzenden Tropfen verursachten. Wir alle waren angespannt: Stefan hatte gerade einem alten Mann das Gesicht weg gepustet, Chris und Michael verteilten Dynamit, um diesen Ort hier zum Einsturz zu bringen. Einige weitere Minuten später war das Dynamit gezündet, die Polizei in die Irre geführt und das ganze Unterfangen wohlbehalten überstanden.
In unserer momentanen Wirklichkeit befanden wir uns nicht im Jahr 2017 in einer Wohnung im Zentrum von Duisburg – nein: Wir erkundeten gerade im Jahr 1924 einen verlassenen Bergbauschacht im Norden der Stadt. Wir waren auf der Suche nach Spuren eines rätselhaften Mordes. Es war ein Mord, den ich nicht nur geplant, sondern auch durchgeführt hatte. Das alles war meine Geschichte – und gleichzeitig das erste größere Schreibprojekt, was ich auch zu Ende gebracht hatte.

“Wir müssen gleich unbedingt noch darüber reden, was passiert wäre, wenn wir hier früher aufgetaucht wären!”, “Ja und was hat es mit dieser Alma auf sich? Wann genau hat der die denn ausgebuddelt?”, “Und wenn Alma hier war, wer lag denn dann im Sarg?” – mein Abenteuer für das Rollenspiel Call of Cthulhu kam scheinbar gut an. Wir hatten alle nicht nur riesigen Spaß, sondern meine Mitspieler interessierten sich sogar für die Hintergründe der Geschichte, die Motive der Charaktere und die politischen Zusammenhänge, die ich extra recherchiert und aufbereitet hatte. Monatelang hatte ich das Szenario immer wieder umgeschrieben, mit für mich neuen historischen Erkenntnissen ausgestattet und Figuren gestrichen, zeitliche Abläufe geändert und Elemente meiner Lieblingsromane von Poe, Gaiman und – damals – Volker Kutscher eingebracht.

Ich bin mir sicher: Das Selbstvertrauen, was ich an diesem Abend tanken konnte, hat meinen Schreibimpuls richtig geweckt und mich dazu gebracht, mein kleines Hobby ernsthafter zu verfolgen! Seitdem arbeite regelmäßig an frischen Abenteuern für verschiedene Rollenspielrunden und verarbeite die am Spieltisch entstandenen Geschichten in eigenen Texten. Bei der Recherche zu einem Abenteuer im Ort meiner Kindheit kam mir schließlich die Idee zu mehr: Warum eigentlich nicht direkt an einen umfangreicheren Text wagen? Mord in einem Spargeldorf an der holländischen Grenze. Mit einem mysteriösen Element, Verflechtungen der örtlichen Kirche und einem Dorfpolizisten, dem das Ganze über den Kopf hinauswächst. Notizseite um Notizseite füllte sich, ein Plot entstand am Whiteboard. Doch irgendwann kamen neue Zweifel auf: Macht man das so? Wie weit sollte man die Geschichte vorausplanen? Wie schreibt man ein Buch? Wie wird ein Text auch für andere interessant? Übernehme ich mich damit?

Und vor allem: Wird meine Ausdauer beim Schreiben größer sein als damals beim Treppensteigen? Um das herauszufinden, bin ich hier.

Dieser Text entstand als Hausaufgabe während meines Fernstudiums an der Schule des Schreibens. Da dieser Text unabhängig von meinem Romanprojekt entstand, möchte ich ihn hier mit euch teilen.