Skip to content

Textfragment: Gerichtsverhandlung

„Ich habe es für meine Familie getan!”, platzte es aus ihr heraus. Der Tag des Anrufs war Anne noch ganz genau im Gedächtnis. Sie hatte ihre Familie verteidigt. Den Instinkten einer Mutter, die ihr Kind beschützen will, nachgegeben. Sie hatte nichts Falsches getan, war sich keiner Schuld bewusst.

Es herrschte Totenstille im Gerichtssaal.

Sven atmete einmal tief ein. Das war ein Schuldeingeständnis seiner Mandantin, soviel war klar . Jetzt musste er in die Offensive gehen. „Was haben Sie für Ihre Familie getan? Und warum? Bitte schildern Sie uns was passiert ist”, sagte er und warf dem Richter einen Blick zu. Dieser nickte.

Seine Mandantin nahm eine aufrechte Haltung ein und begann zu berichten.

„Am Tag, an dem es passiert ist, habe ich einen Anruf erhalten. Sie haben mit der Ermordung meines Sohnes gedroht! Mein süßer Junge! Sie wollten irgendeinen Schließfachschlüssel“, setzte sie an.

„Wer sind ‘sie’?”, warf die Staatsanwältin in den Raum und erntete dafür einen strengen Blick des Richters: „Bitte, Frau Meier, lassen sie die Angeklagte erstmal aussprechen.”

„Nach allem, was ich bisher wusste, konnte ich niemandem trauen. Außerdem sagten sie, mein Junge würde sterben, sollte ich die Polizei oder irgendwen sonst informieren! Also tat ich das Beste, was mir in dem Moment einfiel: Ich rief die Nummer zurück und behauptete, den Schlüssel gefunden zu haben. Das hatte ich natürlich nicht, aber wie sollte ich sonst an meinen Jungen kommen?”, der gesamte Gerichtssaal klebte an ihren Lippen. „Der Erpresser nannte mir daraufhin Uhrzeit und Ort für eine Übergabe”, sie schluchzte.

„Die Autobahnraststätte Leucht, ist das richtig?”, erkundigte sich der Richter. „Ja, das ist korrekt. Ich habe einen unserer Garagenschlüssel eingesteckt – ich hatte ja sonst nichts, was ich ihnen anbieten konnte! Dann habe ich mich um kurz vor 22 Uhr auf den Weg gemacht.”

„Und der Verstorbene – der vermeintliche Anrufer – befand sich wie abgesprochen auf dem Rastplatz? Was ist dort passiert?”, fragte die Staatsanwältin.

Sven gab seiner Mandantin zu verstehen, dass sie sich nicht selbst belasten müsse und sie hier abbrechen könne, wenn sie wollte. Anne jedoch winkte ab und fuhr fort: „Ja, ich habe ihn schon von weitem neben seinem Auto stehen sehen. Er gab mir ein Zeichen, wollte sich scheinbar zu erkennen geben. Der Rastplatz war wie leergefegt. Und als ich näher an ihn heranfuhr, da…”, sie hielt kurz inne, „habe ich Noah gesehen. Mein Junge saß im Auto dieses Mannes! Er war wohlauf, aber hatte eine Art Knebel im Mund.”, Anne war nun sichtlich verzweifelt.

Sven legte seine Hand auf ihre Schulter und bat den Richter um eine kleine Pause.

„Nein! Ich will weiterreden!”, entfuhr es Anne.

Einige der Zuschauer im Besucherraum schreckten auf.

„Ich will sagen, was passiert ist. Ich… ich habe rotgesehen. Eine Chance, mich und meinen Sohn zu retten. Ich habe das Gaspedal durchgetreten und diesen Scheißkerl überfahren!”

Ein Raunen, gefolgt von lautem Getuschel, ging durch den Gerichtssaal.

„Ruhe bitte, ruhe bitte”, versuchte der Richter die aufgeregte Menge zu beruhigen.

Anne wirkte nun gefasster als noch kurz zuvor. „Ich habe den Scheißkerl umgefahren”, wiederholte sie.

Dieser Text entstand als Hausaufgabe während meines Fernstudiums an der Schule des Schreibens. Da dieser Text unabhängig von meinem Romanprojekt entstand, möchte ich ihn hier mit euch teilen.

Published inSchreiben