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Kreativtechnik „Sätze sammeln“

Ich beschäftige mich momentan mit Kreativtechniken beim Schreiben und bin vor einigen Tagen auf eine Übung gestoßen, die ich mit euch teilen will.

Für diese Technik greifen wir wahllos drei Bücher aus unserem Bücherregal. Wichtig: Nicht nachdenken oder pfuschen! Das, was gezogen wurde, wird genommen.

Anschließend wird jedes Buch zufällig aufgeschlagen und der Finger an einer beliebigen Stelle platziert. Wir schreiben dann jeweils ein bis drei Sätze, auf denen der Finger liegt, heraus. Auch hier wichtig: Gepfuscht wird nicht!

Die herausgeschriebenen Sätze bilden die Grundlage für die weitere Arbeit: Die Sätze aus dem ersten Buch stehen für das Genre unseres späteren Textes. Die Sätze aus dem zweiten Buch stehen für die Hauptfigur. Und die Sätze aus dem dritten Buch stehen für eine Ausgangssituation zu einem konkreten Konflikt. Zu den Textauszügen macht man sich zehn bis fünfzehn Minuten Gedanken und schreibt ein paar Gedanken zu den abgeleiteten Ideen nieder. Ich mache das mal vor!

Auszug 1 (Genre)

["Sieben" von Mark Frost] - Sie liefen immer der Nase nach, ohne einen Gedanken an die Richtung oder Entfernung zu verschwenden. Als sie wieder einigermaßen klar denken konnten und das Licht der Fackel ihre Umgebung erhellte, wurde ihnen klar, dass sie sich nicht in einer Fortsetzung des Tunnels befanden.

Ich habe direkt die berühmte Szene aus „Jäger des verlorenen Schatzes“ vor Augen, in der Indiana Jones vor einem rollenden Felsblock davonrennt. Ich sehe ein oder mehrere Personen durch alte Tempel oder alte Tunnel rennen, weil diese zusammenstürzen. Das Genre ist für mich Abenteuerroman!

Auszug 2 (Hauptfigur)

["Schafe blicken auf" von John Brunner] - Das Sprechzimmer war seiner Persönlichkeit absolut angemessen. Er saß hinter einem Mahagoni-Schreibtisch in antikem Stil mit goldverzierter Schreibtischunterlage. Er war schroff, grob und ekelhaft.

Uff, das finde ich schon schwieriger. Ich lese da vielmehr einen Antagonisten heraus; aber das wäre eine auch eine gute Idee für einen Text: Mal aus Sicht eines solchen Schmierlappens schreiben. Meine Hauptfigur ist Dr. Maximilian Roth, Kunstsammler. Zerfressen von seinem eigenen Ego und dem Drang, mit spektakulären Entdeckungen oder großzügigen Spenden in der Presse zu landen. Dafür schreckt er auch vor illegalen Aktionen nicht zurück.

Auszug 3 (Konflikt)

["Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt" von Haruki Murakami] - Im Eingangsbereich des Gebäudes hatten mich zwei Wachmänner angehalten, gefragt, wen ich besuchen wolle, das mit der Liste derer verglichen, die Besucher erwarteten, hatten meinen Führerschein gecheckt, im Zentralcomputer meine Personalien überprüft, mich mit einem Metalldetektor abgetastet und zu guter Letzt in diesen Aufzug geschoben.

Hier hatte ich auch direkt wieder ein Bild vor Augen. Die Bekanntheit steht unserem Hauptcharakter im Weg. Er agiert gerne undercover und ist mit gefälschten Identitäten unterwegs. Doch droht seine Maskierung immer wieder aufzufliegen.

Drauflosschreiben

Nun kommt der finale Teil dieser Technik: Mit unseren Notizen und Ideen schreiben wir einen Romananfang, eine erste Szene! Dabei sollte man nicht zu lange nachdenken und einfach drauflosschreiben. Zwanzig Minuten sind ein guter Richtwert für das reine Schreiben. Anschließend heisst es analysieren: Wie hat man das Genre rübergebracht, wie die Hauptfigur herausgestellt und konnte man den Konflikt gut platzieren? In jedem Fall sollte man so gedanklich auf eine Schreibsession vorbereitet sein und einige neue Ideen für sein Projekt oder zukünftige Projekte mitgenommen haben.

Zum Abschluss noch meine entstandene Szene in der ersten Rohfassung. Die resultierte direkt in zig Ideen für künftige Texte oder Szenen, die ich in mein Notizbuch gepackt habe :-).

Dr. Maximilian Roth schlenderte mit gespielter Nonchalance durch die dicht gedrängte Menge im Foyer des renommierten Museo del Prado. Sein Blick, verborgen hinter einer sorgfältig ausgewählten Designerbrille, schweifte über die Ausstellung; doch sein Interesse galt weniger den Gemälden als vielmehr den Wachmännern in den ausladenden Fluren und den neugierigen Kameras an der Decke. 

Die Luft im Museum war erfüllt von einem Gemisch aus alter Farbe und dem Gestank schwitzender Touristen. Maximilian bewegte sich mit der Menge von Besuchern. Er verabscheute sie. Am Strand oder auf den Hockern irgendeiner billigen Tanzbar wären sie besser aufgehoben. Aber sie waren ein notwendiges Übel; finanzierten schließlich indirekt auch ihn. 

Als er an einer Gruppenführung vorbeiging, in der ein enthusiastischer Museumsmitarbeiter versuchte den dumm dreinblickenden Ottos und Sabines ein Wandgemälde näher zu bringen, klopfte man ihm auf die Schulter. 

“Entschuldigen sie bitte, Herr Kessler”, sagte der hinter ihm stehende Wachmann in gebrochenem Englisch und wedelte mit einer Kopie seines Reisepasses. “Es scheint, als gäbe es ein paar Irritationen bezüglich ihrer Anfrage.” 

Maximilians Blick schweifte blitzschnell zwischen den Ausgängen der Halle hin und her. Wachmänner standen an jedem. Mehr als noch vor ein paar Minuten. 

“Ich denke, sie haben meine Zeit vorhin am Eingang schon genug beansprucht”, erwiderte Maximilian mit einem gespielten deutschen Akzent und betont genervt, “Das wird ihrem Direktor ganz und gar nicht gefallen, wenn sie mich noch weiter warten lassen.” 

Der Wachmann sah Maximilian eindringlich an und schob die Jacke seiner Uniform ein wenig zur Seite. Dies gab den Blick frei auf eine Pistole an seinem Hosenbund. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. 

“Wenn das so ist, dann können wir das sicherlich anders klären”, sagte Maximilian in ernstem Tonfall und schlug den Wachmann mit geballter Faust mitten ins Gesicht. Dieser taumelte zurück. Maximilian rannte los. 

Sein Herz raste, als er durch die Menschenmenge pflügte, die Gänge entlang, vorbei an unschätzbaren Kunstwerken. Hinter ihm hörte er die Sicherheitsleute, die sich hektisch auf Spanisch irgendetwas zuriefen. Aufgebrachte Museumsbesucher fingen an sich lauthals zu beschweren und übertönten das Echo seiner Schritte auf dem kalten Marmorboden. Jeder Atemzug brannte in seinen Lungen, jede Bewegung war getrieben von der puren Notwendigkeit zu entkommen.
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