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Scopulis Abenteuer geht weiter

Vor meinen heutigen Arbeiten am Romanstoff und Aufgaben der Schreibschule, habe ich mich einer kleinen Aufwärmübung gewidmet. Ich habe schon mehrere Kreativtechniken hier vorgestellt; bei Kreatives Schreiben mit der Tarot-Methode habe ich eine Horrorgeschichte mit dem Universalgelehrten Francesco Scopuli begonnen. Heute habe ich dort eine direkte Anschlussszene mit der Methode „5 + 55“ oder „555“ geschrieben. Bei dieser Methode (die auch mit allen anderen Zahlen funktioniert) schreibt man fünf Minuten lang wie in einem Brainstorming einzelne Substantive auf, die einem zum Thema einfallen. Anschließend schreibt man 55 Minuten lang mit ihnen (und durch sie inspiriert) einen Text.

Viel Spaß mit der neuen Szene aus Scopulis Abenteuer!

Im gedämpften Licht des Gewächshauses schienen die Konturen der Welt zu verschwimmen. Francesco Scopuli rieb sich die Augen, unsicher, ob die Schatten, die über das Glas huschten, real waren oder nur Trugbilder seiner überreizten Sinne.

“Leandro, haben Sie das gesehen?”, seine Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren, gedämpft durch das Dickicht aus exotischen Pflanzen und dem Prasseln des Regens auf dem Glasdach. Doch der Junge reagierte nicht. Starr, mit weit aufgerissenen Augen, fixierte er weiterhin die lebensechte Figur des Grafen im Gemälde. Seine Haare glänzten schweißnass.

Scopuli trat einen Schritt zurück und fuhr sich durch das Haar, bemüht, die aufkommende Panik zu unterdrücken. “Das ist unmöglich”, murmelte er. Das Gemälde schien eine eigene Atmosphäre zu besitzen, eine kühle Brise wehte ihm entgegen, als hätte das stürmische Szenario auf der Leinwand Einfluss auf ihre reale Umgebung.

Dann wurde es plötzlich blendend weiß um ihn herum und fast zeitgleich war ein lautes Donnern zu vernehmen. Das Gewächshaus erzitterte, ein Fenster zersprang und einige Pflanzen verloren ihre Blüten. Auch das Bild fiel vornüber auf den steinigen Boden. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. “Das muss der Wind gewesen sein”, versuchte er sich zu beruhigen, obwohl in seinem Inneren Zweifel nagten.

“Leandro, kommen Sie! Wir sollten erstmal zurück ins Haus. Mit dem Sturm ist nicht zu spaßen”, rief Scopuli und griff an die Stelle, wo er Leandro vermutete. Doch seine Hand griff ins Leere.

Scopulis entsetzter Blick wanderte panisch durch das Gewächshaus. Die Pflanzen peitschten im Wind. Von Leandro keine Spur. Er ging zur Tür und drückte gegen das kalte Metall. Nichts. Sie rührte sich nicht.

Scopuli kehrte zum Gemälde zurück und klemmte es sich unter den Arm. Mit seinen Schuhen trat er die kaputte Scheibe des Gewächshauses ganz heraus und quetschte sich samt Bild durch die entstandene Öffnung.

“Leandro! Leandro!”, rief er während er sich dem Hause des Grafen näherte. Der Wind wehte ihm die Regentropfen beinahe waagerecht ins Gesicht. Nach Sekunden, die ihm wie einige Minuten vorkamen, erreichte er die Terrasse und stand schließlich im Hause des Grafen. Augenblicklich bildete sich vor der Tür eine Pfütze.

Scopuli atmete tief durch, legte das Gemälde auf einen Tisch und verschloss die Gartentür.

“Was war denn das?”, sagte er mehr zu sich selbst und legte vorsichtig den naßen Mantel beiseite und fing an, seine dreckigen Stiefel auszuziehen.

“Ah, Signore Scopuli, ich wollte gerade nach ihnen schi… Ahh!”, setzte die Hausverwalterin an, aber endete in einem lauten Schrei.

Scopuli zuckte zusammen, dreht sich um und blickte in das bleiche Gesicht der Hausverwalterin.

“Was zum…”, entfuhr es ihm etwas ruppiger als er es beabsichtigte.

Doch die Hausverwalterin antwortete nicht. Sie hielt sich ihre linke Hand vor den Mund; mit der anderen zeigte sie auf das Gemälde, was Scopuli auf den Tisch gelegt hatte.

Er stellte sich neben sie und musste scharf einatmen. Er traute seinen Augen nicht.

Das Gemälde zeigte das Innere des Gewächshauses, in dem er sich mit Leandro gerade noch befunden hatte. Und mitten drin, schreiend und mit angstverzerrtem Gesicht, war Leandro, der dem Betrachter seine rechte Hand entgegenstreckte!

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