Ellis Apfelkuchen

„Wer schleicht denn da draußen wieder rum? Der guckt ja wie sieben Tage Regenwetter”, sagte Elli und deutete durch die mit Tropfen behangenen Scheiben nach draußen.

„Der mit der Mappe? Dat is der Schembeck, macht jetzt die Sicherheit. Scheint nich gut zu laufen, so wie der guckt”, antwortete ein dicklicher Mann in verölter Arbeitskleidung als er ein Stück Apfelkuchen von Elli nahm. Aus der Schlange war Kichern zu hören.

Elli war seit drei Jahren stolze Besitzerin einer kleinen Imbissbude auf dem Werksgelände der Schmalmeier Stahl GmbH. Ihr Angebot an klassischer Currywurst mit Pommes oder im Brötchen war bei den Arbeitern genauso beliebt wie ihr selbst gebackener Apfelkuchen, den sie vor einigen Monaten in ihr Angebot aufgenommen hatte.

„Stimmt so, Elli”, sagte der nächste Kunde, als er einen Fünf-Euro-Schein auf die Theke legte und sein Stück Kuchen nahm. „Der Kuchen war die beste Idee, die du je hattest. Der macht deinen Laden echt besonders.”

„Danke Hermann, ich geb mein Bestes”, erwiderte Elli.

Die Eingangstür des kleinen Imbisscontainers quietschte. Das Lachen verstummte. Tim, der Neue, trat ein und nickte den Anwesenden ernst zu. Bis sich die Tür wieder langsam schloss, war nur das Plätschern des Regens auf den Asphalt des Werksgeländes zu hören. Die hagere Gestalt mit zur Seite gekämmten Haaren und Dreitagebart schob sich in leicht gebeugter Haltung an der Warteschlange vorbei. Die Brille drohte ihm von der Nasenspitze zu rutschen.

„Mein Lieber, hier bist du genau richtig, um dir ein wenig die Laune aufzuhellen bei diesem Schietwetter. Für Neue gibts hier einen kleinen Rabatt auf den Kuchen”, sagte Elli in die Richtung des durchnässten Sicherheitsbeauftragten. „Wirst dich aber noch kurz gedulden müssen. Wie du siehst, stehen die Männer bei mir Schlange”, ergänzte sie und fuhr sich betont süffisant durchs Haar. Einer aus der Warteschlange lachte dreckig.

„Morgen. Machen Sie sich keine Sorge, ich kann warten, aber will aktuell sowieso nichts zu essen”, sagte der Mann und deutete mit dem Zeigefinger auf das Schild an seiner Jacke. „Ich bin Tim Schembeck und mache nun die Sicherheit- und Hygieneprüfungen auf diesem Teil des Geländes. Dürfte ich bitte mal ihren Werksausweis, Betriebsgenehmigung für den Imbiss und die aktuelle Standerlaubnis sehen? Dann setze ich mich einfach an einen der Tische und arbeite das schnell durch.” Tim nahm seine nasse Brille ab und trocknete sie am Saum seiner Jacke.

„Oh, du kommst schnell zur Sache, was? Aber alles klar, habe alles hier. Einen Moment”, Elli verdrehte leicht die Augen und holte einen großen Ordner aus ihrem kleinen Pausenraum hinter der Küche. „Hier, bitte. Und nun zurück zu euch”, wandte Elli sich wieder der Schlange vor ihrer Theke zu.

Eine gute Stunde war das Rascheln von Blättern, das Seufzen von Tim und das Kratzen seines Kugelschreibers auf dem vor ihm ausgelegten Papier zu hören. Die Arbeiter hatten inzwischen Ellis Container verlassen und hatten sich wieder ihren Tätigkeiten zugewendet. Elli ließ Wasser in das Spülbecken und kümmerte sich um das dreckige Geschirr.

„Sooo”, begann Tim unvermittelt, „mir scheint wir haben hier ein Problem, Frau Dombrowski. Den Kuchen, den sie hier backen und verkaufen: Dafür haben sie gar keine Genehmigung. Das hier ist ein Imbiss für warme Speisen; zum Aufwärmen von Speisen, um genauer zu sein. Zubereitung von Fertigprodukten. Oder con-ve-ni-ence food, wie man Neudeutsch sagt.”

„Was soll das bedeuten, mein Lieber?”

Tim verdrehte die Augen: „Dass die Verarbeitung von Grund- und Rohzutaten hier nicht gestattet ist; und es würde mich wundern, wenn die Zutaten über die Logistik des Werkes beschafft werden können. Wenn doch, muss ich da wohl auch nochmal ein ernstes Wörtchen mit denen Reden. Die Zubereitung und der Verkauf von Backwaren sind fortan zu unterlassen.”

Tim haute die Unterseite seines Kugelschreibers auf den Tisch, um ihn einzufahren und drehte demonstrativ einen Zettel Richtung Elli. „Kommenden Montag werde ich erneut prüfen. Bis dahin haben Sie Zeit, das Angebotssortiment entsprechend anzupassen.”

„Nein, keine Logistik, die Sachen für den Kuchen bringe ich mit – das sind Äpfel von meinem Schwager. Was soll denn das? Das war bisher nie ein Problem, wenn der Holger hier kontrolliert hat. Hier probieren sie doch erst einmal”, Elli griff vor sich in den Tresen und holte ein großes Stück Apfelkuchen hervor, brachte es Tim an den Tisch, der sich gerade seine Jacke wieder anzog.

„Holger ist aber nicht mehr da”, sagte Tim genervt und traf mit dem Ärmel seiner Jacke unbeabsichtigt den Teller auf Ellis Arm. Der Teller knallte auf den Tisch und der Kuchen landete mitten auf den Unterlagen und Tims Schreibmappe, eine dünne Schicht Puderzucker verteilte sich darauf.

„Passen sie doch auf, verdammt!”, entfuhr es Tim.

Die sonst so schlagfertige Hobbybäckerin wusste spontan nichts zu erwidern und stand verdattert da. Der Kontrolleur stand auf: „Denken Sie dran: Nächsten Montag.“, er knallte die Tür hinter sich zu.

Elli stand einige Minuten vor den nach Apfelkuchen riechenden Akten. Dann schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. „Was ein Arschloch!”, platzte es aus ihr heraus.

Als die Abenddämmerung hereinbrach, schloss Elli die Imbissbude und machte sich auf den Weg zur S-Bahn, um nach Hause zu fahren. Sie war noch immer verärgert über das Auftreten des Kontrolleurs und seine Pedanterie. Mit Papierkram hatte sie nie viel zu tun gehabt, sie hatte keine Ahnung, was sie nun tun sollte. Ohne den Kuchen würde sie niemals über die Runden kommen.

Unter lautem Quietschen hielt die S7 am Bahnsteig und sie stieg ein. Durch das Gedränge der anderen Pendler fiel ihr Blick direkt auf ein bekanntes Gesicht im hinteren Teil des Wagens. Diese dünne Gestalt mit der ungesund gebeugten Haltung und den hängenden Schultern, die kannte sie doch. Es war Tim. Er saß dort wie ein Häufchen Elend: Allein an einer Vierer-Sitzgruppe, den Blick leer auf den Boden gerichtet. Seine Haltung verriet pure Erschöpfung und Niedergeschlagenheit.

Elli zögerte kurz, aber Sitzplätze waren rar und gestanden hatte sie schon den ganzen Tag. Sie setzte sich neben ihn. Er schaute mit erröteten Augen auf und dann sofort aus dem Fenster.

„Frau Dombrowski?”, fragte er überrascht.

„Hallo”, sagte sie. Und bei seinem Anblick konnte sie es sich nicht verkneifen: „Ach, auch einen schweren Tag gehabt?”

Er atmete tief durch und schaute aus dem Fenster. Der Regen hatte noch immer nicht aufgehört. „Ja, es war wahrlich kein guter Tag. Aber nicht wegen der Arbeit. Private Probleme, meine Frau und ich, wir… ach – es ist kompliziert.”

Elli blickte überrascht auf den Hinterkopf des harten Kontrolleurs; in der Spiegelung der Scheibe glaubte sie, Tränen in seinen Augen zu erkennen. Sie griff instinktiv in ihre Tasche und kramte ein Stück in Alufolie gepacktes Stück Apfelkuchen hervor. Der Duft von süßlichem Apfel erfüllte die Sitzgruppe. Knisternd faltete sie die Folie beiseite und reichte ihm das Stück Kuchen. Tim nahm es wortlos und ohne sie direkt anzuschauen. Er nahm mehrere Bissen.

Nach zwei Stationen des wortlosen Nebeneinandersitzens musste Elli raus. „Das wird schon wieder, sowas habe ich auch schon hinter mir”, sagte sie in Tims Richtung und ergänzte: „Der Verzehr von Speisen ist in der Bahn übrigens verboten.”

Tim rang sich ein Lächeln ab.

Über eine Woche hörte Elli nichts mehr von Tim. Insgeheim hoffte sie, dass er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen würde. Aber dann war es Montag und an den hungrigen Gesichter der vor ihr stehenden Arbeiter vorbei, sah sie Tim vor dem Imbiss aus seinem Auto steigen. Er trug eine Schreibmappe unter dem Arm.

„Was ist los, Elli? Hast du ein Gespenst gesehen?”, erkundigte sich ein schlaksiger Mann im Blaumann.

„Äh, was? Nein, ach es ist nur… so hier, ein Kaffee. Lass ihn dir schmecken!”, fertigte Elli den Kunden ab, ohne ihren Blick von Tim und seiner Schreibmappe zu nehmen.

Die Tür schwankte auf und er betrat den Laden mit ernster Miene. Er nestelte zwei Blätter aus der Mappe und knallte sie Elli auf den Tresen. „Das hat nun ein Ende”, schaute er sie ernst an.

Elli blickte auf die Zettel: “Genehmigung nach Betriebskantinenverordnung: Verarbeitung und Vertrieb von Lebensmitteln aus Eigenproduktion.”

Sie blickte verwirrt auf. „Was bedeutet das?“
„Dass Sie jetzt eine Genehmigung haben, Kuchen anzubieten.“
Elli fiel ein Stein vom Herzen. Die Arbeiter in der Warteschlange stießen sich an.

„Einen Apfelkuchen bitte”, lächelte Tim sie an.

Horrorgeschichte in 90 Minuten

Ich habe mich einer kleinen Schreib-Challenge gestellt, in der es um das Schreiben einer Horrorgeschichte oder eines Horrofragments innerhalb von 90 Minuten geht. Ich habe dafür auf den bereits bekannten Francesco Scopuli zurückgegriffen. Das Ergebnis, an dem ich allerdings einiges auszusetzen habe, will ich hier mal mit euch teilen.


Francesco Scopuli beäugte misstrauisch das Essen, das ihm vorgesetzt wurde. Gebratenes Gemüse mit Gänsefleisch, Ananas und exotische Früchte sowie eine Vielzahl von teuren Käsesorten starrten ihm ins Gesicht, doch die eine Person, die er suchte, war nirgends zu finden.

Francesco wandte sich an den Butler. „Wo ist Angelo Giovanni?“

Der Butler senkte den Kopf und wiederholte genau das, was er zu sagen gelernt hatte. „Der Herr ist im Moment beschäftigt. Er wird Sie bald wieder einholen.“

Diese Worte befriedigten Scopuli jedoch nicht. Er erhob sich wütend von seinem Platz und schob den Bediensteten hinter sich, als er den großen Speisesaal verließ. Was hatte es für einen Sinn, im Haus des Gastgebers zu essen, wenn die einzige Gesellschaft die Einsamkeit sein würde?

Er blieb in der Halle stehen und blickte die große Treppe hinauf, die mit dem feinsten Marmor Italiens verziert war. Kein normaler Mensch könnte das mit einer solchen Leichtigkeit kaufen, wie Angelo es tat, dachte Francesco. Vielleicht sollte er dieser Tatsache auch mal nachgehen.

Angelos Arbeitszimmer befand sich im oberen rechten Flügel der Villa, tief verborgen hinter einer Vielzahl von Korridoren. Der Butler konnte Francesco nicht aufhalten, als er ein Zimmer nach dem anderen durchstöberte, um seinen verschwundenen Gastgeber zu finden.

„Angelo!“ rief Francesco. „Ich weiß, dass du hier drin bist! Komm heraus, damit wir jetzt über das Geschäftliche reden können, mein Freund. Du bist lässt dir unverschämt viel Zeit.“

In der Stille des Abends hörte er ein leises Rumpeln und Rascheln hinter der Tür, bevor diese mit einem Knarren geöffnet wurde. Angelo Giovanni stand vor ihm, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Er blickte zu Boden, als Francesco bei seinem grausigen Anblick zusammenzuckte. Sein Körper war ein einziges Durcheinander aus zerfetztem Fleisch, das an einigen Stellen verweste und verfaulte und einen fürchterlichen Verwesungsgestank verbreitete, während ein stinkender Luftzug durch das Schloss wehte. Seine Augen waren an einigen Stellen aufgerissen, die Augenlider hingen wie ein paar Fleischfetzen herab. Es war kein Blut zu sehen, und der Mann zeigte keine Anzeichen von Unbehagen, doch sein Gesicht hing voller Scham herab.

„Was ist mit dir geschehen?!“, keuchte Francesco und legte eine Hand auf seinen Mund, um den Würgereiz zu lindern, der plötzlich auftauchte.
Angelo betrachtete Francesco sorgfältig von oben bis unten, und fällte scheinbar still ein paar Urteile. Dann winkte er mit den Händen, als wolle er mit ihm den Korridor entlang gehen.

„Du bist ein Mann der Mathematik und der Wissenschaft, nicht wahr?“, fragte der Gastgeber.


„Ja“, sagte der Gast.


„Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass es mehr als das gibt? Dass es Kräfte gibt, die gegen die Kirche arbeiten, Kräfte, die sich die Gier von Menschen wie mir zunutze machen und sie zu ihrem Vorteil ausbeuten?“

„Was hast du getan, mein Freund?“ fragte Franceso und fühlte sich furchtbar unwohl, als er den Körper seines alten Freundes näher betrachtete. Sein linkes Ohr hing nur noch an einem Stück Haut, bemerkte Francesco und schmeckte Galle in seinem Mund.

„Ich habe einen schweren Fehler begangen. Ich habe eine uralte Seele aus den Tiefen der Hölle erweckt. Sie sehnt sich nach Macht, aber ich will nur noch fliehen. Das Werk Satans ist zu schmutzig für mich.“

Francesco trat zurück, sein Herz raste plötzlich. „Warum hast du mich hierher eingeladen, Angelo?“

Der verstümmelte Mann sah zu Boden und überlegte, wie er seine nächsten Worte formulieren sollte. „Siehst du, du bist ein Mann mit großem Einfluss. Die Menge hört auf einen Universalgelehrten, aber nicht auf einen Dramatiker wie mich. Wir sind zu… fiktiv. Die Seele, die ich erweckt habe, sehnt sich nach Einfluss. Sie möchte ein Gefäß bewohnen, das den Ohren des einfachen Mannes Autorität einflößen kann. Diese Person, mein Freund, kann niemand anderes sein als du.“

„Ich habe jetzt genug.“

„Du kannst nicht gehen, Francesco“, sagte der verstümmelte Mann und trat näher an seinen Gast heran. Er legte ihm einen fleischigen Arm auf die Schulter, so dass ein Hauch von Verwesungsgeruch in die Nase des Gastes drang.

Francesco kippte sofort um und würgte in einer Ecke. „Was ist mit dir passiert?“

„Ah, das“, amüsierte sich Angelo und betrachtete sein einst so stattliches Ich. „Betrachte es als Strafe oder als Fluch. Ich habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen für all das hier um mich herum.“ Er sah sich in seinem luxuriösen Haus liebevoll um. „Aber leider waren die Taten der Toten zu viel für mich, um sie zu bewältigen. Ich habe aufgegeben. Jedes Mal, wenn ich mich weigere, mich dem Teufel zu beugen, kommen die Kreaturen der Erde und ernähren sich von meinem Fleisch. Sie vergraben ihre Eier in meinen Muskeln und in meinem Fett und lassen sie beim Schlüpfen wieder herausfressen. Es ist nicht mehr schmerzhaft, aber ich möchte mich von diesem Fluch befreien. Du bist der Schlüssel dazu. Ein Leben für ein Leben.“

„Du hast dir das ausgesucht“, sagte Francesco trotzig. Ich habe dem nicht zugestimmt. Ich bin ein Universalgelehrter mit vielen Ambitionen. Auch ich habe ein Leben zu leben.“

„Es tut mir leid, mein Freund. Ein Leben für ein Leben, und ich habe meines gewählt. Aber mach dir keine Sorgen. Wenn dein sterbliches Gefäß von der Ausgeburt des Satans übernommen wird, wird deine Seele ins Fegefeuer wandern. Du wirst nicht einmal merken, was geschehen ist. Alles wird normal sein.“

„Aber-„

Bevor der Universalgelehrte ein weiteres Wort sagen konnte, holte Angelo eine scharfe Obsidianklinge aus den Falten seiner klebrigen, verrottenden Toga hervor und schlitzte seinem Gast den Hals auf. Blut spritzte, als Angelo lächelte und seine verfaulten, madigen Zähne entblößte, denn er wusste, dass seine Notlage ein Ende haben würde.

So drehte sich die Welt um, als die Ausgeburt des Satans den einflussreichen Körper bewohnte, um die Menschen böswillig vom rechten Weg abzubringen.

Francesco Scopuli erwachte in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit, an einem schönen Sonntagmorgen, als die helle sizilianische Sonne in sein Zimmer schien. Er konnte sich nicht erinnern, was geschehen war oder wer ihn hierher gebracht hatte, aber er war zufrieden. Er hob die Hand an seinen Hals, den einzigen Teil seines Körpers, der sich gelegentlich komisch anfühlte.

Der Tag, an dem ich geschrumpft wurde

Hi, mein Name ist Paul. Wenn ich euch sagen würde, dass ich gerade ungefähr so groß bin wie ein Streichholz, dann würde mir das vermutlich niemand glauben. Ich selbst hätte mich vermutlich für verrückt erklärt. Aber ich beginne am besten ganz von vorn.

Ich wohne in einem kleinen Dorf, das so unbedeutend ist, dass es auf den meisten Landkarten noch nicht einmal eingetragen ist. Mein Vater arbeitet als Tischler in der alten Dorfwerkstatt. Schon seitdem ich ein kleiner Junge war versuchte er, mich für seine Arbeit zu begeistern. Doch sooft er mich auch mit in die Werkstatt nahm, Gefallen fand ich an der Arbeit nie. Doch meinen Vater musste etwas an der Arbeit faszinieren. Stundenlang verschloss er sich abends in der Tischlerei und arbeitete bis tief in die Nacht hinein. Allein bei dem Gedanken daran, den Betrieb zu übernehmen und dann auf so viel Arbeit sitzen zu bleiben, verging mir die Lust daran. Letztendlich überredete er mich eines Tages, als er vor lauter Arbeit so starke Rückenschmerzen hatte, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Mein Mitleid mit dem alten Herrn überwog und ich ließ mich dazu breitschlagen, den Betrieb an seiner Stelle weiterzuführen.

Zumindest behauptete ich das. Innerlich hatte ich schon tagelang Pläne geschmiedet, um mich irgendwie davor zu drücken. Einen anderen Job annehmen? Ins Ausland reisen? Nichts davon schien mir erstrebenswert. Die Idee, die sich immer fester in meinem Kopf einnistete, war zwar nicht sehr rühmlich, aber effektiv. Ich wollte selbst in die Werkstatt eindringen, einige teure Maschinen wie Kreissägen und Pressen stehlen und die ganze Aktion so als Diebstahl aussehen lassen. Die Geräte hatte mein Vater schon vor einiger Zeit auf mein Anraten hin versichern lassen. Bei Erfolg hätte die Aktion gleich mehrere Vorteile. Ich würde nicht nur die für den Betrieb unerlässlichen Werkzeugen verlieren, sondern hätte darüber hinaus auch noch einiges an Kapital, mit dem ich meine berufliche Zukunft nach meinen Wünschen gestalten könnte.

Eines Nachts schlich ich mich nun also in die Werkstatt. Zuvor hatte ich einige Leute angeheuert, die die Geräte nach dem Verladen in Lastwagen so weit weg bringen wie möglich, ohne Fragen zu stellen. Es war ein nebeliger Abend, dichte Schwaden hingen zwischen den Häusern und erschwerten die Sicht noch zusätzlich. Mir war das gerade Recht, half es mir doch, meinen Plan noch besser unbemerkt in die Tat umsetzen zu können. Den Weg zur Werkstatt konnte ich auch ohne Licht problemlos finden. Die letzten Tage war ich ihn mehrfach abgelaufen, um sämtliche Abläufe zu verinnerlichen.

Das alte Vorhängeschloss an der Tür brach ich mit Leichtigkeit auf und schlüpfte hinein in die Werkstatt. Ich durfte kein Licht anmachen, das könnte meinen Vater alarmieren, der direkt gegenüber im Wohnhaus schlief. Hätte er gewusst, was ich vorhätte, so hätte es ihm wahrscheinlich das Herz gebrochen. Die Werkstatt war sein Vermächtnis, aufgebaut über viele Jahre und so stets als sein wertvollstes Gut behandelt. Doch es war ebenso ein Vermächtnis, welches ich nicht bereit war, weiterzuführen. Ich schüttelte die Schuldgefühle ab und begab mich nach hinten zu den Maschinen. So genau hatte ich sie mir noch nie angesehen, auch wenn ich einmal in der Werkstatt aushalf. Auf einigen von ihnen hatte sich bereits eine dünne Staubschicht gebildet, seit mein Vater sie nicht mehr benutze. Andere wiederum standen verdeckt unter Planen in der Ecke. Ich entschied mich dafür, zunächst die kleinen Bohrer nach draußen zu bringen.

Als ich mir gerade die erste Ladung geschnappt hatte und mich auf den Weg zu den Lastwagen machen wollte, bemerkte ich in der linken oberen Ecke des Raumes ein kleines rotes Lämpchen. Ganz schwach und unscheinbar leuchtete es, doch gefror mir sofort das Blut in den Adern, als mir bewusstwurde, was ich da entdeckt hatte. Eine Überwachungskamera. Sofort spürte ich die Panik in mir aufsteigen. Bei meinem Kontrollgängen war sie mir nie aufgefallen. Hatte mein alter Herr sie heimlich installiert, ohne mir davon zu berichten? Egal, das alles spielte in diesem Moment keine Rolle. Meine Gedanken drehten sich nur völlig im Kreis. Ich musste verschwinden. Ich ließ die Bohrer zu Boden fallen und hastete in Richtung Hintertür. Von dort aus wäre es nicht weit bis zum Wald. Dort wäre ich erst einmal sicher.

Ich rannte durch die Werkstatt in Richtung Tür. Plötzlich spürte ich, wie etwas meinen Fuß umschlang. Ich hatte eines der am Boden liegenden Stromkabel übersehen. Doch mein Bemerken kam zu spät. Aufgrund meines Tempos geriet ich aus dem Gleichgewicht und stolperte nach vorn. Meine Hände versuchten panisch, meinen Fall abzufangen, doch faden nichts zum Festhalten.

Ich verlor endgültig das Gleichgewicht und krachte mit voller Wucht gegen eine alte Holzkiste, die in der Ecke stand. Noch nie zuvor war sie mir aufgefallen. Doch als das Holz unter meinem Gewicht zusammenbrach, entdeckte ich im Inneren eine glänzende Maschine. Mein Aufprall musste sie aktiviert haben, jedenfalls begann sie plötzlich grell aufzuleuchten und ein dröhnendes Geräusch ertönte.

An die nächsten Moment erinnere ich mich nur noch bruchstückweise. Einige grelle Blitze erfassten mich, ein Gefühl von tausend Stromschlägen durchfuhr meinen Körper. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos war, als ich jedoch zu mir kam, da blieb mir das Herz beinahe erneut stehen. Die eben noch winzige Schraube auf dem Boden war plötzlich größer als ich, der Tisch erhob sich vor mir so riesig wie ein Berg. Es wäre gelogen, zu behaupten, dass ich das Ganze so gut weggesteckt habe, wie es sich jetzt anhört. Es dauerte eine lange Zeit, bis mir vollends bewusstwurde, was mir in diesem Moment widerfahren war.

So, nun kennt ihr die Geschichte, wie ich so klein wie ein Zahnstocher wurde. Dabei gibt es noch so viel zu erzählen über all die Dinge, die ich in den nachfolgenden Wochen und Monaten herausfand. Doch das ist eine Geschichte für ein anderes Mal. Nur so viel: Nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir ausmalen können, womit mein Vater die nächtlichen Stunden in seiner Werkstatt verbracht hatte.

Diese Kurzgeschichte entstand im Rahmen eines eintägigen Kreativworkshops im vergangenen Jahr. Vielleicht hat sie euch ja kurz unterhalten können.