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Dünne Wände

Es wurde vereinzelt der Wunsch nach mehr Prosa-Texten an mich herangetragen. Aus dem Romanprojekt selbst will ich aber noch nichts hier veröffentlichen. Daher poste ich in Zukunft mal ein paar mehr Texte, die in Modulaufgaben entstanden und vom Roman unabhängig sind. Heute gibt es einen Text, der eine unterschwellig konfliktbeladene Unterhaltung enthält.

Ein länglicher Handkoffer schob sich zwischen die sich schließenden Aufzugtüren der sechsten Etage des Mehrfamilienhauses. Gerd verdrehte innerlich die Augen. „Morgen“, grummelte er ohne aufzusehen.

„Hallo Herr Pöllen“, erwiderte Clara und drückte auf den mit „E“ beschrifteten Knopf, „Doppelt hält besser.“

Gerd erwiderte das Lächeln der jungen Dame nicht. Demonstrativ nestelte er an den Taschen seiner Jacke herum und zog den Autoschlüssel seiner in die Jahre gekommenen Mercedes E-Klasse hervor.

„Auch heute am Brückentag am Arbeiten?“, fragte Clara, „Da waren wir wohl nicht schnell genug beim Urlaub einreichen“. Sie lächelte weiterhin.

„Ach, Sie arbeiten jetzt auch? Fertig mit der Uni?“

„Äh, nein – aber ich habe heute Übung.“

„Achso. Und gestern noch fleißig dafür trainiert, wie man gehört hat?“

Kurze Zeit war nur das Rumpeln des Fahrstuhls zu hören. Claras Lächeln erlosch für einen Moment, als sie Gerds Ton bemerkte. Sie rückte den Koffer mit dem Fagott  zurecht und antwortete: „Ja, ich muss mich auf die Prüfung vorbereiten. Musik ist eben nicht nur Hobby, sondern auch viel Arbeit.“

Gerd konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. „Musik, ja. Die Wände sind dünn, und Beethoven um Mitternacht ist zwar kulturell wertvoll, aber nicht gerade schlaffördernd.“

„In ihrem Alter ist jede Minuten Schlaf wichtig“, sagte Clara mehr zu sich selbst; heute kam ihr die Aufzugfahrt besonders lange vor.

„Wie bitte?“

Clara zog eine Augenbraue hoch, „Ich verstehe. Ich werde versuchen, es in Zukunft leiser angehen zu lassen. Aber manchmal benötigt die Kunst eben ihre Zeit.“

„Kunst hin oder her, ein wenig Rücksichtnahme hat noch niemandem geschadet“, erwiderte Gerd, während er seinen Blick auf die Anzeige über der Fahrstuhltür richtete, die die Stockwerke zählte. Die Lampe für den zweiten Stock leuchtete auf. „Ab spätestens 10 Uhr ist Nachtruhe. Nicht nur hier im Haus. Das ist gesetzlich geregelt.“

„Manchmal schafft man es aber nicht vorher; gerade jetzt im Studium hat man viel zu tun.“

Gerd wurde lauter: „Ach, das muss man nur richtig organisieren. Vielleicht sollte man die Treffen mit Freunden oder das Rumtreiben in der Stadt reduzieren. Erwachsen sein bedeutet: Priorisieren, junge Dame! Man kann nicht alles haben.“

Der Fahrstuhl kam mit einem Ruck auf Ebene „E“ zum Stillstand. Clara drehte sich zur Tür und machte Anstalten, möglichst schnell aus dem Lift zu flüchten. Dann aber atmete sie tief ein und drehte sich doch noch einmal um: „Vielleicht sollten Sie mal zu einem meiner Konzerte kommen. Könnte sein, dass Sie mich dann besser verstehen.“

„Oh, zweifellos. Ein Konzertbesuch würde sicherlich alle Unannehmlichkeiten wettmachen“, entgegnete Gerd sarkastisch.

Clara lächelte, diesmal ein wenig schelmisch, und entgegnete: „Ihre Pfeife müssen Sie aber zuhause lassen. Ihr Gr… ihren Tabak oder was auch immer Sie da In ihrem Kabuff rauchen, kommt da nicht so gut. Haben Sie einen schönen Tag.“

Mit diesen Worten verließ sie den Fahrstuhl, ließ Gerd mit einem nachdenklichen Ausdruck zurück. Mit einem leichten Lächeln schaute er ins Leere. Anscheinend gab auch sein Verhalten Grund zur Beschwerde. “Dünne Wände, was?”, murmelte er in seinen Bart.

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