Die alten Holzstufen ächzten unter meinem Gewicht, das Knacken der Treppe war im ganzen Flur zu hören. Wenn ich zu der Wohnung von Chris negative Punkte nennen sollte, dann war es vor allem die Tatsache, dass sie sich ganz oben im dritten Stockwerk befand und der Altbau sehr hohe Decken hatte.
Zwei Etagen noch. Die Bäckerei im Erdgeschoss hatte diesen Nachmittag zwar schon geschlossen, aber der Duft von frisch gebackenen Brötchen und Broten erfüllte die Luft noch immer. Genau genommen kann ich mich an keinen Besuch hier erinnern, an dem ich diesen wohligen Geruch nicht wahrgenommen habe. Die Bewohner waren ihm dauerhaft ausgesetzt und einige von ihnen verleidete er mittlerweile regelrecht den Appetit. Für mich unverständlich.
Eine Etage noch. Meine Tasche mit Unterlagen zog mich regelrecht nach unten, mit jeder Stufe spürte ich meine Oberschenkel stärker. “Das kann doch nicht sein, dass mir die paar Stufen dermaßen zu schaffen machen; da muss sich was ändern!”, dachte ich mir jedes Mal, wenn ich hier war.
Noch zwei.
Noch eine.
Geschafft! Nun einmal tief durchatmen. Durch die angelehnte Wohnungstür hörte ich schon die Stimmen von Michael und Stefan und das Knistern von Chipstüten – meine Aufregung nahm zu.
Neun Stunden später saßen wir immer noch im Wohnzimmer. Vorgebeugt über den quadratischen Tisch, der voll stand mit Getränken, Snacks, Schmierzetteln, Karten und Stiften. Bedrohliche Musik ertönte aus den Lautsprechern. Draußen war es inzwischen so dunkel, dass man den Regen nur noch durch das Geräusch mitbekam, das die auf der Fensterscheibe zerplatzenden Tropfen verursachten. Wir alle waren angespannt: Stefan hatte gerade einem alten Mann das Gesicht weg gepustet, Chris und Michael verteilten Dynamit, um diesen Ort hier zum Einsturz zu bringen. Einige weitere Minuten später war das Dynamit gezündet, die Polizei in die Irre geführt und das ganze Unterfangen wohlbehalten überstanden.
In unserer momentanen Wirklichkeit befanden wir uns nicht im Jahr 2017 in einer Wohnung im Zentrum von Duisburg – nein: Wir erkundeten gerade im Jahr 1924 einen verlassenen Bergbauschacht im Norden der Stadt. Wir waren auf der Suche nach Spuren eines rätselhaften Mordes. Es war ein Mord, den ich nicht nur geplant, sondern auch durchgeführt hatte. Das alles war meine Geschichte – und gleichzeitig das erste größere Schreibprojekt, was ich auch zu Ende gebracht hatte.
“Wir müssen gleich unbedingt noch darüber reden, was passiert wäre, wenn wir hier früher aufgetaucht wären!”, “Ja und was hat es mit dieser Alma auf sich? Wann genau hat der die denn ausgebuddelt?”, “Und wenn Alma hier war, wer lag denn dann im Sarg?” – mein Abenteuer für das Rollenspiel Call of Cthulhu kam scheinbar gut an. Wir hatten alle nicht nur riesigen Spaß, sondern meine Mitspieler interessierten sich sogar für die Hintergründe der Geschichte, die Motive der Charaktere und die politischen Zusammenhänge, die ich extra recherchiert und aufbereitet hatte. Monatelang hatte ich das Szenario immer wieder umgeschrieben, mit für mich neuen historischen Erkenntnissen ausgestattet und Figuren gestrichen, zeitliche Abläufe geändert und Elemente meiner Lieblingsromane von Poe, Gaiman und – damals – Volker Kutscher eingebracht.
Ich bin mir sicher: Das Selbstvertrauen, was ich an diesem Abend tanken konnte, hat meinen Schreibimpuls richtig geweckt und mich dazu gebracht, mein kleines Hobby ernsthafter zu verfolgen! Seitdem arbeite regelmäßig an frischen Abenteuern für verschiedene Rollenspielrunden und verarbeite die am Spieltisch entstandenen Geschichten in eigenen Texten. Bei der Recherche zu einem Abenteuer im Ort meiner Kindheit kam mir schließlich die Idee zu mehr: Warum eigentlich nicht direkt an einen umfangreicheren Text wagen? Mord in einem Spargeldorf an der holländischen Grenze. Mit einem mysteriösen Element, Verflechtungen der örtlichen Kirche und einem Dorfpolizisten, dem das Ganze über den Kopf hinauswächst. Notizseite um Notizseite füllte sich, ein Plot entstand am Whiteboard. Doch irgendwann kamen neue Zweifel auf: Macht man das so? Wie weit sollte man die Geschichte vorausplanen? Wie schreibt man ein Buch? Wie wird ein Text auch für andere interessant? Übernehme ich mich damit?
Und vor allem: Wird meine Ausdauer beim Schreiben größer sein als damals beim Treppensteigen? Um das herauszufinden, bin ich hier.
Dieser Text entstand als Hausaufgabe während meines Fernstudiums an der Schule des Schreibens. Da dieser Text unabhängig von meinem Romanprojekt entstand, möchte ich ihn hier mit euch teilen.