Dieser Text entstand für ein Schreibseminar zum Thema “Haupt- und Subplots miteinander verbinden”. Aufgabe war die Verbindung von zwei Plots durch dasselbe Kernthema: “Mut und Entschlossenheit – beziehungsweise deren Fehlen – sich für etwas Wichtiges einzusetzen”.
Jana saß noch immer an dem viel zu niedrigen Stuhl, den eigentlich die Kinder benutzten. Der Lehrerzimmer-Kaffee war kalt. Durch die Milchglasfenster fiel das flache Licht eines späten Nachmittags. Die Stimmen der Kolleginnen waren längst verklungen, der Hausmeister hatte nur kurz hereingeschaut und sie mit einem Blick zwischen Mitleid und Verwunderung bedacht.
Vor einer Stunde war Herr Vollmer gegangen, der Vater des Drittklässlers Tobias. Ein Bär von einem Mann, leise sprechend, aber mit einer Schärfe, die durch jede Silbe schnitt. Jana hatte versucht, das Thema Gewalt anzusprechen. Tobias habe einem anderen Kind beinahe die Nase gebrochen. Zum zweiten Mal. Vollmer hatte den Blick nicht gehoben. Nur gesagt: „Zu Hause ist alles in Ordnung.“ Dann: „Sie haben keine Ahnung.“
Und sie? Sie hatte geschwiegen. Wie so oft.
Sie war keine junge Lehrerin mehr. Sie wusste, wann es klüger war, nicht zu kämpfen. Und wann es feige war.
Jetzt saß sie da, eine Tasse in der Hand, die nach alten Keksen roch, und fragte sich: Wann hatte sie aufgehört, sich einzusetzen? Für die Kinder, für die Wahrheit?
Sie griff zum Handy. Tappte. Schrieb keine Nachricht. Löschte. Schrieb wieder.
„Ich muss morgen mit Ihnen sprechen. Es geht um Tobias. Und um Sie. Ich werde das nicht weiter hinnehmen.“ – Abschicken.
Ihr Finger zitterten, als sie das Handy weglegte. Draußen bellte ein Hund. Der Kaffee war immer noch kalt. Aber in ihr war etwas warm geworden.
Ein Windstoß ließ draußen die Bäume rauschen. Einer der drei Zettel an der Tür zum Lehrerzimmer löste sich langsam und trudelte zu Boden. Ein Aufruf zur Schulhofverschönerung – Freiwillige gesucht. Unterschriften bisher: Zwei.
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Ben kaute auf dem Stift. Seine Matheaufgaben lagen vor ihm wie kleine Burgen, die er nie erstürmen würde. Draußen wurde es dunkler, und drinnen immer lauter. Das Fernsehen brüllte durch die Wand, irgendwer schrie, und die Schwester schlug ihre Zimmertür wie ein Richter seinen Hammer.
Er zog den Zettel hervor, den Frau Sander heute in der Klasse ausgeteilt hatte. Schulhofaktion. Man solle sich einbringen, Verantwortung übernehmen, sagte sie. „Gestaltet die Schule mit.“ Ben hatte sich vorgestellt, wie er mit einem Spaten in der Hand das neue Beet bepflanzte. Und wie die anderen vielleicht sagten: „Hey, cool, Ben, guter Job.“
Aber dann hörte er wieder das Lachen, das Pfeifen: „Benni, der Gärtner! Fehlt nur noch das rosa Einhorn.“
Er stand auf, ging zur Tür, dann wieder zurück. Setzte sich. Schrieb seinen Namen unter den Zettel. Strich ihn durch. Schrieb ihn wieder hin. Es sah schief aus. Er riss das Blatt ab, holte ein neues.
„Ben Martens“ – klein, aber lesbar.
Er faltete den Zettel, steckte ihn in seine Federtasche. Morgen würde er ihn abgeben. Vielleicht.
Oder vielleicht nicht.
Sein Herz klopfte, als hätte er gerade die Schule angezündet. Oder ein Geheimnis verraten. Aber es fühlte sich auch gut an.