Hinter dem Vorhang

Kapitel 1: Die Bretter, die die Welt bedeuten

Ronny stand im schmalen Foyer des Stadttheaters in Duisburg und fühlte, wie ihm der Schweiß in dünnen Rinnsalen den Rücken hinabglitt. Der modrige Teppich, die flackernden Neonröhren über dem Eingang und der Geruch aus abgestandenem Rotwein und nasser Garderobe taten ihr Übriges, um seinen Magen weiter in Aufruhr zu versetzen. Zweimal hatte er sich in den letzten dreißig Minuten schon in die Toilette geflüchtet, um die Galle hinunterzuwürgen und sein bleiches Gesicht im Spiegel zu mustern.

Er nahm einen Schluck aus seinem Flachmann, steckte ihn zurück in die Innentasche und zog anschließend die Uniformjacke des Securitydienstes enger um sich, als könne sie ihn unsichtbar machen. Jede sich öffnende Tür, jedes Räuspern hinter ihm ließ ihn zusammenzucken. Er vermied es, den Blick zu heben – zu groß war die Angst, einem alten Kollegen oder, schlimmer noch, einem seiner ehemaligen Informanten zu begegnen. Dass er sich von seiner Frau hatte überreden lassen, hier den Wachhund zu spielen, kam ihm nun wie ein schlechter Scherz vor. Aber sie war Lichttechnikerin hier, und er hatte keine Ausrede mehr gehabt ihre Bemühungen nach einem Überbrückungsjob für ihn abzulehnen.

Die Vorstellung hatte vor einigen Minuten begonnen, das dumpfe Murmeln aus dem Saal war zu einem gedämpften Flüstern geworden. Seine Magensäure begehrte schon wieder auf; behutsam zog er Luft durch die Zähne ein und massierte mit einer Hand seinen Solarplexus. So versuchte er das Sodbrennen zu lindern. Meistens half es – heute nicht. Ronny versuchte, sich auf die geschlossenen Türen zu konzentrieren, auf den Rhythmus seines Atems. Dann riss ein Schrei – schrill, unmenschlich, von blanker Panik getragen – die Luft entzwei. Vor Schreck erbroch er Magenflüssigkeit in seinen Mund. Es brannte. Dann ging alles ganz schnell.

Die schwere Doppeltür des Theatersaals knallte gegen die Betonwand. Menschen stürmten aus dem Saal: Blasse Gesichter, weit aufgerissene Augen, ein Durcheinander aus Stöckelschuhen und Jackenärmeln. Ronny fror ein, während das Chaos auf ihn zurollte.

Dann prallte die erste Person gegen ihn. Er prustete den Inhalt seines Mundes heraus und fasste langsam wieder einen klaren Gedanken. Ein Notfall? Er stemmte sich gegen den Strom der Fliehenden, ein dumpfes Rauschen in den Ohren, das mit jedem Schritt lauter wurde. Jemand stieß ihn an der Schulter, eine Frau mit verschmierter Lippenfarbe, die nur noch ein einzelnes Wort stammelte: “Blut.” Ihre Augen waren glasig, leer wie die Schaufenster in den Nebenstraßen der Fußgängerzone.

Das Licht im Saal war gedimmt, doch nicht völlig dunkel. Ein fahles Rot flackerte über die Reihen. Ronny roch es, noch bevor er etwas sah – Blut: Warm und metallisch, wie der Geschmack von Münzen auf der Zunge. Sein gezeichneter Magen zog sich noch weiter zusammen, als hätte jemand ein nasses Tuch hineingepresst.

Er tastete nach der Taschenlampe an seinem Gürtel. Seine Finger waren taub, das Plastik glitt ihm fast aus der Hand. Du bist Polizist, redete er sich ein. Oder du warst es. Der Zusatz schmerzte.

Zwischen den Reihen erkannte er Gestalten, die sich reglos in den Sitzen duckten. Einige hielten sich den Mund zu, andere starrten einfach geradeaus. Auf der Bühne selbst – eine Burgruine, bemalt in kränklichen Farben – schien etwas nicht mehr zu dem Stück zu gehören. Ein Schatten, zu groß für einen Schauspieler, stand hinter dem samtenen Vorhang.

“Bitte bewahren Sie Ruhe!”, versuchte er der die Situation wenigstens etwas zu beruhigen.

“Langsam bitte!”

Was zum Teufel ging hier vor sich? Und wie ging es seiner Frau?

“Jeanette? Jeanette?” – keine Spur von ihr.

Ein kalter Schweißfilm legte sich auf seine Schläfen. Jeder Schritt vorwärts war ein Verrat an seinem eigenen Überlebensinstinkt, und doch konnte er nicht zurück. Hinter ihm knarrte die schwere Tür, und mit einem schmatzenden Laut fiel sie ins Schloss – als hätte das Theater selbst beschlossen, ihn zu behalten. Der Schatten löste sich langsam vom Vorhang. Eine blasse, nackte Gestalt glitt in das matte Bühnenlicht. Die Konturen wirkten verschwommen, als würde die Gestalt in einem eigenen Rhythmus flimmern, wie Hitze über Asphalt.

Ronny blieb stehen. Sein Atem ging flach, die Finger an der Taschenlampe verkrampft, bis die Knöchel schmerzten. Ein dumpfes Pochen hinter den Schläfen erinnerte ihn an die Nacht seiner Suspendierung: Das Knistern des Polizeifunks, das gläserne Klirren, als er die falsche Tür aufbrach; das Gesicht des Jungen, der ihm danach nicht mehr aus den Träumen wich. Er hatte sich damals geschworen, nie wieder unvorbereitet in einen Raum voller Dunkelheit zu treten. Und doch war er hier.

“Ganz ruhig. Reiss dich zusammen”, er tastete nach seinem Flachmann, aber fand ihn nicht.

Das Ding auf der Bühne bewegte sich nicht weiter, aber die Luft um es herum schien sich zu verdichten. Ein Geräusch drang aus der Stille, ein sanftes Knacken, wie wenn Holz unter Gewicht nachgibt. Ronny atmete schneller, und plötzlich war er wieder auf dem Revier, spürte den Blick seines Vorgesetzten, hörte das kalte Urteil: Suspendiert – bis auf Weiteres. Das „bis auf Weiteres“ hatte sich in sein Fleisch gebrannt wie eine Brandmarke.

Jetzt flüsterte etwas in der Dunkelheit, ein kaum hörbarer Laut, der direkt in sein Ohr zu kriechen schien. Kein Wort, eher ein scharfes Zischen, das zwischen Bedrohung und Lockruf schwebte. Die Zuschauer, die noch auf ihren Sitzen verharrten, reagierten nicht. Ihre Augen waren glasig, starrten auf die Bühne, als hätten sie längst beschlossen, Teil der Show zu werden.

Ronny spürte, wie sein Körper verkrampfte. Er dachte an seine Frau, die irgendwo hinter den Kulissen sein musste – vielleicht ahnungslos, vielleicht schon in der Nähe dieses… Etwas. Ein innerer Befehl riss ihn aus seiner Lähmung: Beweg dich! Doch seine Beine gehorchten nur schwer. Sein Herz hämmerte weiter, jeder Schlag ein dumpfes Echo in dem morschen Gemäuer, das plötzlich mehr wie ein Grab wirkte als ein Theater.

Ein weiterer Laut riss durch den Saal – ein nasses, reißendes Geräusch, wie das Zerplatzen einer überreifen Frucht. Ronny zuckte zusammen. Auf der Bühne sank die Gestalt auf die Knie. Etwas Dunkles spritzte aus ihr heraus, ein dicker Strahl, der in grotesken Bögen über den Bühnenboden schoss. Der Geruch von Eisen wurde sofort beißend, so stark, dass Ronny würgen musste.

Kein Schrei von den Sitzreihen. Nur das klebrige Tropfen, das auf die Holzplanken klatschte. Erst als der Körper der Gestalt vornüberfiel, brach ein kollektives Aufkeuchen aus – nicht laut, eher ein dumpfes, gleichzeitiges Keuchen, als hätte der ganze Saal den Atem zu lange angehalten.

Die Zuschauer in den vorderen Reihen begannen sich zu bewegen. Zuerst langsam, dann ruckartig. Köpfe drehten sich in unnatürlichen Winkeln, Gelenke knackten. Ein älterer Mann im grauen Mantel erhob sich – nicht, indem er aufstand, sondern als würde ihn etwas von innen nach oben zerren. Sein Mund öffnete sich weit, viel zu weit, bis die Kieferknochen knirschten. Ein schwarzer Schleier aus Blut und Speichel rann über sein Kinn.

Ronny stolperte einen Schritt zurück, rammte mit dem Oberschenkel gegen eine Sitzlehne. Das Pochen in seinen Ohren wurde ohrenbetäubend. Seine Taschenlampe zuckte und warf irrlichternde Kreise über Gesichter, die langsam, fast genüsslich, zu ihm herüberwanderten.

Auf der Bühne kniete nun eine zweite Gestalt. Eine Frau in einem zerrissenen Kleid. Sie grub die Finger in den blutigen Hals eines bewegungslosen Mannes und führte sie dann langsam zum eigenen Mund. Ihre Zunge glitt über die triefenden Fingerspitzen, als probierte sie etwas Kostbares. Ihre Augen funkelten im Rotlicht, kalt und leer wie Glas.

Ronny spürte, wie sein Magen endgültig aufgab. Galle brannte in seiner Kehle. Doch sein Blick konnte nicht losreißen. In dieser makabren Stille, durchsetzt von Tropfen und Knacken, merkte er, dass die Zuschauerreihen ihn nun geschlossen anstarrten – Dutzende glasige Augen, die nur einen Gedanken zu teilen schienen: Bleib bei uns.

Ronny riss sich los. Der Körper gehorchte endlich, angetrieben von blanker Panik. Er stolperte rückwärts den Mittelgang entlang, vorbei an starren Gestalten, die sich jetzt langsam erhoben – wie Marionetten, die eine unsichtbare Hand zum Leben zwang. Er hörte ein dumpfes Knacken hinter ihm, als er die schwere Tür zum Backstage-Bereich aufstieß und hinter sicher verschloss.

Der Gang hinter der Bühne roch nach Staub, kaltem Schweiß und altem Schminkfett. Die Glühbirnen warfen zitternde Flecken auf die Wände, und irgendwo tropfte Wasser in regelmäßigen Abständen, als ticke eine unsichtbare Uhr.

“Ronny!” Die Stimme seiner Frau schnitt durch die Luft. Er drehte sich – dort, zwischen den Kulissen, stand sie: Blass, die Haare wirr, ihr Overall mit roten Spritzern übersät.

“Wir müssen raus“, keuchte er, packte unvermittelt ihren Arm. Keine Fragen, keine Erklärungen. Nur Flucht. Zusammen rannten sie den schmalen Korridor entlang, die Tür zum Saal hinter ihnen wurde bereits von dumpfen Schlägen erschüttert.

Die Hintertür des Theaters ließ sich überraschend leicht aufstoßen. Kalte Nachtluft schlug ihnen entgegen. Sie traten in die enge Gasse hinter dem Gebäude – und blieben wie angewurzelt stehen.

Dort warteten Menschen. Zehn Personen, die in einem Halbkreis standen, als hätten sie schon länger hier gewartet. Ihre Kleidung war seltsam altmodisch: Abgetragene Mäntel, Krägen aus vergilbtem Samt, Hüte, die an vergessene Jahrhunderte erinnerten.

“Hey! Gehören Sie zum Theater? Ist die Polizei benachrichtigt? Irgendwas passiert da drinnen, wir sollten uns entfernen”, wandte sich Ronny an die Gruppe. Keiner von ihnen sprach. Doch ihre Gesichter, bleich wie Mondstein, waren alle auf ihn gerichtet.

Ronny spürte, wie die Kälte der Nacht plötzlich zu einer unerträglichen Schwere wurde. Seine Frau presste sich an ihn, doch selbst ihr Herzschlag schien von dieser Stille verschluckt zu werden. Einer der Fremden hob langsam die Hand – ein dünnes, knochiges Fingerbündel, das in die Dunkelheit deutete.

Ein Schwindel packte Ronny wie ein körperlicher Schlag. Sein Blick verschwamm, die Welt löste sich in rote Schlieren und flirrende Schatten auf. Das letzte, was er spürte, war der Griff seiner Frau, der sich krampfhaft an seine Schulter klammerte, gefolgt von einem heißen Stechen an seinem Hals – und ein flüsterndes Kichern, nah an seinem Ohr. Lust wallte in ihm auf.

Dann fiel die Nacht über ihn, schwarz und bodenlos.


Kapitel 2: Erwachen

Kälte. Nicht die Kälte einer Nacht, sondern eine, die aus dem Inneren kommt, als hätte man einen ganzen Sack Eiswürfel gegessen. Ronny öffnete die Augen und sah nur Grau. Ein flaches, totes Grau, das nach und nach Konturen gewann: Weiße Wände aus grobem Beton, ein metallener Tisch unter seinem Rücken, ein Deckenlicht, das in unregelmäßigen Abständen flackerte.

Er konnte sich nicht bewegen. Riemen schnitten in seine Handgelenke, in die Knöchel, und ein dumpfes Brennen in den Gliedern verriet, dass er schon lange so gelegen haben musste. Seine Kleidung – oder das, was davon übrig war – fühlte sich klamm und erdig an. Unter seinen Fingernägeln klebte Dreck, als hätte er sich durch Meter von nasser Erde gewühlt.

Etwas Flüssiges berührte seine Lippen. Er wollte den Kopf wegdrehen, doch sein Körper gehorchte nicht. Eine kühle Hand hielt seinen Kiefer, kippte einen Kelch an seinen Mund. Dicker, dunkler Geschmack rann auf seine Zunge – süß und metallisch zugleich. Ein Schock durchzuckte ihn mit jedem Schluck, als würde jemand glühende Drähte durch seine Adern schieben.

“Trink“, murmelte eine tiefe Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, gefärbt von einer fremden Sprache.

Er schluckte weiter. Der kräftige Griff um seinen Kiefer ließ ihm keine anderen Wahl. Die Flüssigkeit brannte sich wie Feuer in seine Kehle, weckte etwas in ihm, das er nie gekannt hatte. Hunger. Ein Hunger, der sich nicht nach Brot oder Fleisch sehnte, sondern nach dem warmen Puls unter fremder Haut.

Ronny riss die Augen weit auf. Über ihm stand ein Mann, kahlgeschoren, Haut dunkel wie poliertes Ebenholz, in schlichten schwarzen Kleidern. In seinen Händen der Kelch, dessen Rand mit seltsamen Symbolen graviert war – eine Sonne, ein Kreis aus ineinander verschlungenen Linien.

“Du bist lange fort gewesen,“ sagte der Mann ruhig. “Doch jetzt braucht man dich. Die Nacht ist jung, und der Krieg hat begonnen.“

Ronny verstand nicht. Als er etwas erwidern wollte, zerriss ein gellender Knall die Stille. Metall kreischte irgendwo jenseits der schweren Tür. Ein weiteres Geräusch folgte: Das trockene, schnelle Feuern von Waffen, dann Schreie.

Der Fremde fluchte und hob den Kopf. “Sie sind hier. Die Jäger.“ Er beugte sich vor, öffnete mit einem einzigen Handgriff die Riemen an Ronnys Armen. “Wenn du Antworten willst, beweg dich! Jetzt!“

Ronny stürzte von der Liege, schwankte kurz. Sein Körper fühlte sich wie neu an, stark und zugleich sehr fremd. Neben ihm standen andere Tische, auf denen sich Gestalten regten – blasse Gesichter, schmale Hände, die nach Halt suchten. Keiner sprach.

Die Tür flog auf. Grelles Licht schnitt in den Raum, und Silhouetten mit Helmen und Gewehren füllten den Durchgang. Seine Haut begann zu brennen.

“Los!“ fauchte der Fremde. „Nach hinten. Der Hafen. Jetzt!“

Ronny rannte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Fremde mit unmenschlicher Geschwindigkeit den Angreifern entgegenstürmte. Die anderen Gestalten folgten Ronny, taumelnd wie Neugeborene, während hinter ihnen ein Feuergefecht losbrach, was von unmenschlichem Kreischen durchbrochen wurde. Kugeln prallten an Beton, Funken sprühten, dumpfe Schläge hallten durch den Gang. Der Boden schien zu beben.

Ein schmaler Gang führte hinaus in die feuchte Nacht. Über dem Hafen hing Nebel, der nach Abwasser und altem Öl roch. In der Ferne hörte man die Autobahn, irgendwo kreischte ein Möwenschwarm. Ronny spürte das Blut in seinen Adern toben wie ein wilder Strom.

Der Fremde schloss zu ihm und den anderen auf, seine Augen glühten im Zwielicht. “Es wird euch vieles erklärt werden, wenn wir in Sicherheit sind. Aber eines müsst ihr wissen: Dies ist erst der Anfang. Ihr seid nicht mehr das, was ihr einst gewesen sein. Und die, die euch jagen, wissen das bereits.“

Ronny wollte etwas erwidern, doch ein fernes Heulen schnitt ihm das Wort ab – ein technisches Sirren, das sich wie ein Netz über den Nebel legte. Irgendwo hinter ihnen flog etwas auf sie zu.

“Drohnen! Wir müssen weiter. Rennt! Mir nach und schaut nicht zurück.”

Sie rannten mehrere Stunden ohne müde zu werden. Vorbei an großen Schiffen, Containern und Lagerhallen. Die Lichter der Stadt in einiger Entfernung um sie herum. Mit der Zeit nahm ein Dröhnen in Ronnys Kopf zu. Es war als hörte er einen Herzschlag. Nein, mehrere. Sie vibrierten in seinem Kopf wie ein Bass, der durch Knochen und Asphalt ging. Er hörte Pulsadern pochen. Er spürte Menschen in der Dunkelheit, obwohl er keine sah.

Sie erreichten ein altes Lagerhaus, dessen Wellblechdach im Wind knarrte. Der kahlgeschorene Fremde – Adelino, hatte er gesagt – schob eine Tür auf, und der Geruch, der ihnen entgegenschlug, ließ Ronnys Magen krampfen. Warm. Süß. Lebendig.

Innen lagen drei Menschen. Gefesselt, bewusstlos, nur schwach atmend. Ein Mann in Arbeitskleidung, eine junge Frau in einem zerrissenen Partyoutfit, ein Teenager mit blassen Lippen. Ronny starrte auf die aufblitzenden Halsschlagadern, jede Bewegung unter der Haut ein Trommelschlag gegen seine Selbstbeherrschung.

Adelino drehte sich zu ihm. “Der Hunger ist jetzt euer Gesetz“, sagte er leise, fast ehrfürchtig. “Trinkt – oder ihr verliert euch.“

Ronny wich zurück. “Ich… ich bin kein…“ Das Wort blieb stecken.

“Kein was? Kein Mensch? Kein Tier?”

Sein Mund füllte sich mit einem fremden Speichel, zäh und süß wie Sirup.

Die junge Frau stöhnte leise, bewegte den Kopf. Ihr Duft schlug ihm entgegen wie ein heißer Windstoß. Etwas in ihm schrie “Nein”, doch ein tieferer, älterer Instinkt antwortete “Jetzt”.

Er kniete neben ihr, spürte, wie seine Finger ihre Schulter umklammerten. Ihre Haut war warm – so warm und zart, dass er glaubte, mit ihr zu verschmelzen. Er beugte sich vor. Sein Atem strich über ihren Hals.

Ein leises Klicken. Adelinos Stimme, kaum hörbar: “Nur ein Schluck. Oder du wirst reißen.“

Dann war da nur noch der Geruch und das rhythmische Pochen. Ronny fühlte, wie seine Zähne sich verlängerten – ein kaum merkliches Reißen im Kiefer, ein Schmerz, der sich gleichzeitig wie Erlösung anfühlte.

Als er die Haut berührte, explodierte die Welt. Der erste Tropfen Blut schmeckte nach Sommerregen und brennendem Metall. Eine Welle aus Hitze, Macht und unheiliger Freude schoss durch ihn hindurch. Er sog tiefer, hörte den Herzschlag der Frau langsamer werden, spürte, wie jede Faser seines Körpers sich füllte, als würde er aus dem Nichts neu geboren.

Eine Hand riss ihn zurück. Adelino. “Genug!“

Ronny keuchte, der Mund voller Wärme, die nicht ihm gehörte. Er sah die Frau, blass, aber noch lebend, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag: Er hätte sie fast getötet!

Adelinos Blick war kalt und wissend. “Dies ist jetzt deine Natur. Lerne, sie zu beherrschen. Oder du wirst sie verlieren – und dich mit ihr.“

Ronny wischte sich das Blut von den Lippen und spürte, wie er in einer neuen, dunklen Weise lebendig war. Auch die anderen begannen, sich zu nähren.

Das Schmatzen wurde nach einigen Minuten von einem gellenden Sirenenton zerschnitten. Ronny wirbelte herum – grelles Flutlicht brach durch die großen Fenster der Halle. Aus den Schatten tauchten Gestalten in schwarzer Taktikausrüstung auf, Helme mit Nachtsichtgeräten, Gewehre im Anschlag.

“Ziel erfassen!“ rief jemand metallisch verzerrt durchs Funkgerät. Ein roter Punkte zuckte über Ronnys Brust.

Adelino stieß ein heiseres “Deckung!“ aus und sprang vor, schneller als das Auge folgen konnte. Die ersten Schüsse flogen durch die Luft.

Ronny spürte keine Angst – nur eine plötzliche, wilde Klarheit. Sein Körper reagierte, bevor er denken konnte. Er stürmte vorwärts, sprang über einen Container, landete mitten zwischen zwei Angreifern. Seine Hände griffen nach dem Lauf des ersten Gewehrs. Ein Ruck – der Soldat flog wie eine Puppe gegen die Wand. Knochen knackten dumpf. Der zweite riss das Messer hoch. Ronny sah das Licht auf der Klinge, roch den Schweiß unter der Panzerweste. Seine neuen Sinne führten ihn. Er wich aus, rammte dem Mann den Ellbogen ins Gesicht. Ein Schrei, dann Blut – warm und dampfend. Der Geruch jagte einen schmerzhaften Hunger durch seine Eingeweide.

Weitere Schüsse. Ein Projektil schlug in seinen Oberarm. Schmerz – doch sein Körper heilte sofort, die Wunde schloss sich unter knisternder Hitze. Er brüllte. Ein Laut, der nicht mehr menschlich war, vibrierte durch den Nebel und ließ die Angreifer zurückweichen.

Adelino kämpfte wie ein Schatten, riss einem Soldaten die Kehle auf, während ein anderer sich im Stroboskop der Mündungsfeuer wand. Doch es kamen immer mehr.
Schwarze Helme aus allen Richtungen.

Ronny packte eine Eisenstange und wirbelte sie in weitem Bogen. Ein Helm zerplatzte wie eine Schale, Blut spritzte gegen den Container. Er fühlte die Wärme auf seiner Haut, schmeckte das Blut in der Kehle. Es war berauschend – und abgrundtief falsch.

Dann ein gleißender Blitz. Schmerz brannte durch seinen Rücken. Eine Blendgranate?
Seine Muskeln verkrampften, er stürzte auf die Knie. Dann ein Schlag, Elektrizität durchzuckte ihn. Sterne explodierten in seinem Blickfeld.

Er taumelte, hörte Adelinos wütenden Schrei irgendwo hinter sich. Dann ein dritter Impuls – ein greller Lichtbogen, der ihm das Bewusstsein aus dem Kopf riss. Er fiel rückwärts, spürte kaltes Metall an den Fersen. Dann keinen Boden mehr.

Der Aufprall ins Wasser war ein schwarzer Schock. Eisige Kälte riss ihm den Atem weg, schleuderte ihn in ein Strudeln aus Strömung und Nebel. Er trieb, taumelte, wurde weggeschleudert, tiefer, dunkler – bis selbst das ferne Knattern der Waffen erstarb.

Und dann war da Wärme. Sanfte Finger auf seiner Wange.

Er sah ihre Augen – seine Frau, blass und schimmernd wie durch Glas. “Ronny“, flüsterte sie, ihre Stimme wie ein ferner Glockenschlag unter Wasser, “komm zurück…“

Er wollte antworten, doch das Wasser füllte seine Kehle. Die Dunkelheit nahm ihn erneut an die Hand.


Kapitel 3: Fragen

Ein dumpfes Pochen weckte ihn.

Ronny stand im Zuschauerraum des Theaters – das Parkett war überflutet, schwarzes Wasser reichte ihm bis zur Hüfte. Das rote Bühnenlicht flackerte über die Oberfläche, als glühe darunter ein schwelender Brand. Von den Balkonen tropfte Wasser in regelmäßigen Abständen herunter. Jeder Tropfen hallte wie ein Uhrschlag. Auf der Bühne lag der Kelch aus dem Lagerhaus, umgeben von zerbrochenen Masken und morschen Requisiten. Aus den Schatten hinter dem Vorhang trat seine Frau.

Sie war schön und furchteinflößend zugleich – ein Abendkleid klebte an ihrem Körper, durchtränkt von etwas Dunklerem als Wasser. Ihre Augen glänzten wie polierter Stein.

“Ronny…”, ihre Stimme war weich, aber darunter vibrierte etwas Uraltes, „du bist gekommen”

Er watete durch das Wasser, das bei jedem Schritt kälter wurde. “Wo bist du? Ich finde dich nicht.”

“Ich bin hier.”

Sie lächelte – ihre Lippen glühten rot. Zu unnatürlich für einen Lippenstift.

Das Wasser begann zu steigen, erst langsam, dann in einer Welle, die ihn bis zur Brust drückte. Als er in Reichweite war, griff er nach dem Kelch, doch die Bühne entfernte sich, als glitte sie rückwärts in eine endlose Tiefe. Seine Frau hielt den Blick auf ihn gerichtet, während sie hinter den Vorhang zurückwich.

“Finde mich, bevor sie es tun”, klang sie beinahe flehend.

Ein Donner grollte. Die Kulissen zitterten. Plötzlich brach der Boden unter ihm auf, und das Wasser riss ihn in die Tiefe.

Mit einem keuchenden Laut riss Ronny die Augen auf. Das Rauschen des Flusses dröhnte in seinen Ohren wie ein ferner Herzschlag. Über dem grauen Wasser lag der erste Schimmer des Morgens – ein blasser Streifen Licht, der sich zögernd über den Horizont schob. Kein Zeichen von Adelino. Kein Zeichen von den Jägern. Und kein Zeichen von ihr.

Er wollte sich aufrichten, doch ein jäher Schmerz fuhr durch seine Haut, als hätte jemand glühende Nadeln in sie getrieben. Die Sonne. Nur ein matter Hauch ihrer Strahlen, und doch brannte es, als würde er langsam in Flammen gesetzt. Ein Zischen, feines Rauchgrau, stieg von seinem Handrücken auf.

Panik riss ihn auf die Beine. Er stolperte vom Ufer weg, während jeder Lichtstrahl ihm wie ein Messer in die Haut schnitt. Seine Schritte führten ihn zu einer rostigen Gitteröffnung, halb verdeckt von Brombeersträuchern. Ein alter Kanaleinstieg, feucht und modrig, aber dunkel. Mit letzter Kraft zerrte er das Gitter zur Seite und ließ sich in die Tiefe fallen.

Kalter, abgestandener Luftzug empfing ihn wie ein nasser Schleier. Er lehnte sich keuchend gegen die feuchte Ziegelwand, die Haut noch dampfend vom Sonnenbrand. Das Brennen ließ nach, doch ein anderes Gefühl drängte sich in den Vordergrund: Der Hunger.

“Ich finde dich”, flüsterte er in die Dunkelheit, “Ich finde dich, Schatz.”

Ein Geräusch unterbrach seine Worte. Ein Rascheln, dann ein scharfes Quieken, das durch die Stille schnitt wie ein Messer. Ronny hob den Kopf. Zwei winzige Augen funkelten im Dämmerlicht des Kanals – eine Ratte, triefend vor Schmutz, das Fell vom Wasser verklebt. Das Tier blieb stehen, zögerte, die Schnauze bebend, als ahne es bereits, was sich im Dunkeln verändert hatte. Ronny roch sie, bevor er sie richtig sah: Eine süße, verführerische Note, verborgen unter Gestank von Moder und Abwasser. Er presste die Zähne aufeinander, versuchte, das Pochen in seinem Schädel zu ignorieren. Doch der Hunger war nun ein Tier in ihm, lauernd, gierig, unausweichlich.

Er wusste nicht, wann er sich bewegte. Nur, dass er plötzlich über dem Tier war. Ein dumpfer Laut, seine Hände griffen zu, schneller, als er je geglaubt hätte, sich bewegen zu können. Die Ratte zappelte, kratzte, biß, aber er hielt sie fest. Der Geruch ihres Blutes füllte den Kanal, betäubend, betörend. Das Tier zappelte in seiner Faust, und ehe er begreifen konnte, was er tat, drückte er es an seine Lippen. Der erste Tropfen war warm. Dann kam die Flut – ein Schwall von Leben, wild, roh, erbärmlich, aber süß und seinen Hunger stillend. Er sog, bis nichts mehr blieb. Als er die tote Ratte sinken ließ, fühlte er sich elend; und zugleich fit wie nie zuvor. Das Pochen in seinem Kopf war verstummt. Stattdessen blieb ein dumpfer Nachhall, eine tiefe, unheilvolle Ruhe.

Er sank gegen die Wand, wischte sich das Blut vom Mund und sah zu, wie ein einzelner Tropfen zwischen den Ritzen der Pflastersteine verschwand. “Was bin ich geworden?”, dachte er. Tränen liefen seine Wangen herab. Sein Schluchzen hallte in der Dunkelheit wider. Irgendwann schlief er ein.

Als der Abend kam, kroch er aus dem Kanal. Die Sonne war versunken, die Stadt atmete in gelbem Neon und Dieselduft. Ronny zog den Mantel enger und machte sich auf den Weg. Er wusste nicht, wohin sonst – also ging er dorthin, wo man ihn kannte: Das Polizeipräsidium.

Dieselben grauen Mauern, derselbe Geruch nach Papier, Schweiß und kaltem Kaffee. Er stieg die Stufen hinauf, das Licht im Eingangsbereich schmerzte in seinen Augen. Hinter dem Tresen saß Streifenführerin Beyer, jung, nervös, die Nägel rot lackiert. Sie blickte auf, erst flüchtig, dann erschrocken: “Herrgott! Ronny?”

Er nickte. Seine Stimme war rau, fremd: “Ich muss mit Koller sprechen. Jetzt.”

Sie starrte ihn an, blass geworden. “Ronny, das… das ist unmöglich!”

“Was soll das heißen?”

Ein anderer Polizist kam aus dem Nebengang, blieb abrupt stehen: “Heilige Scheiße! Das ist er!”

Binnen Sekunden sammelten sich drei, vier Kollegen um ihn. Bekannte Gesichter sowie neue. Einer machte das Kreuzzeichen, ein anderer murmelte ungläubig: “Ich hab dich gesehen, Mann. Ich hab deine Leiche gesehen.”

Ronny wich zurück, das Herz ein leerer Schlag. “Was redet ihr da?”

Koller, sein alter Vorgesetzter, trat hervor, die Uniformjacke halb offen, die Stimme unsicher. “Ronny, du bist beim Gasleck im Theater umgekommen. Letzten Monat. Wir… wir haben dich gefunden, im Hinterzimmer, verbrannt, kaum wiederzuerkennen.“

Ein Kloß schnürte ihm die Kehle zu. “Das ist unmöglich”, presste er hervor.

Koller sah ihn an, als sähe er einen Geist. “Wir haben dich beerdigt, Ronny. Wir, deine Frau…”, er stockte, “Sie hat dich identifiziert.”

Stille. Nur das leise Surren der Neonröhren über ihnen. Ronny trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Seine Haut prickelte, als würde das Licht ihn wieder verbrennen. “Ich… muss gehen”, brachte er hervor.

“Ronny!”, ermahnte Koller ihn, “du bleibst hier, wir klären das. Keine Sorge. Du bist verwirrt, genau wie wird. Aber das wird schon. Janßen, sorge du bitte dafür, dass seine Frau hergeholt wird. Und du, Ronny, kommst erstmal mit in den Besprechungsraum.”


Kapitel 4: Abteilung Drei-Zwo-Fünf

Ronny saß in dem fensterlosen Besprechungsraum und hörte das Summen der Klimaanlage wie ein fernes Insekt. Die Lampe über dem Tisch flackerte in unregelmäßigem Takt. Koller stand ihm gegenüber, die Hände aufgestützt, das Gesicht grau vom Neonlicht. Zwei weitere Beamte lehnten an der Wand, ihre Blicke irgendwo zwischen Mitleid, Neugier und Angst.

“Ich sag’s dir ganz ehrlich, Ronny”, begann Koller schließlich. “So was hab ich noch nie erlebt. Wir haben dich identifiziert, DNA, Gebiss, alles eindeutig. Du lagst da im Hinterzimmer des Theaters. Tot. Und jetzt sitzt du hier und redest mit mir. Das ergibt einfach keinen Sinn.”

Ronny schwieg. Jede Silbe, die er sagen wollte, kam ihm absurd vor. Wie hätte er erklären sollen, was passiert war – die Schatten, die Bühne, das Blut, das Brennen unter seiner Haut? Er wollte an den Tisch greifen, fühlte aber, wie sich seine Finger im grellen Licht verkrampften. Selbst das Neon tat weh.

“Ich bin nicht tot”, sagte er schließlich, leise, fast trotzig.

Koller seufzte. “Das sagst du. Aber irgendwas stimmt nicht mit dir. Und ich kenn dich, Ronny – du warst nie einer für Spukgeschichten”, er griff in seine Jackentasche, zog ein Smartphone hervor und tippte etwas, “wir haben da eine Abteilung. Spezialisten. Die sind eigentlich nicht für uns zuständig, aber in solchen Fällen…”

Ronny hob den Blick. “Was für Spezialisten?”

Koller wich seinem Blick aus. “Leute, die sich mit Dingen beschäftigen, über die man nicht gern redet.”

Noch bevor Ronny antworten konnte, öffnete sich die Tür. Ein Mann in einem dunklen, schlichten Anzug trat ein – groß, mit kurzgeschorenen Haaren und Augen, so grau wie Beton. “Herr Kramer”, sagte er ruhig. “Nennen sie mich Marek. Ich leite die Abteilung Drei-Zwo-Fünf. Sie kommen jetzt bitte mit mir.”

“Was ist das hier?”, fragte Ronny, doch Koller legte ihm nur eine Hand auf die Schulter.

“Vertrau mir, Ronny. Wenn überhaupt jemand dir helfen kann, dann die.”

Der Wagen, in den sie ihn setzten, war unmarkiert, schwarz, geruchlos. Die Fenster getönt, die Innenbeleuchtung aus. Sie fuhren schweigend durch die Stand. Nur wenige Minuten, dann hielt der Wagen vor einem alten, wuchtigen und vollkommen fensterlosen Backsteinbau – das Landesarchiv NRW.

Ronny runzelte die Stirn. “Die Landespolizei ist nebenan”, sagte er beinahe schnippisch.

Marek öffnete die Tür: „Nicht nur. Kommen Sie.”

Ein paar elektronisch gesicherte Türen später gingen sie schmale Gänge entlang, vorbei an endlosen Regalen, die bis zur Decke reichten. Akten, Mikrofilme, Holzkästen – Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte Geschichte. Überall hier roch es nach altem Papier, Eisen und kaltem Stein. Hinter einer Stahltür, die Marek mit einer Codekarte öffnete, änderte sich die Luft. Steril. Kühl. Summen von Elektronik.

Dieser Raum dahinter war kein Archiv mehr. Bildschirme leuchteten an den Wänden, dazwischen Schautafeln, Karten, Bilder – Tatorte, Zeitungsberichte, alte Holzschnitte von verwachsenen Kreaturen. In der Mitte stand ein schwerer Tisch aus Metall.

“Willkommen bei der Abteilung Drei-Zwo-Fünf. Die Sondereinheit für Übernatürliche Phänomene der Landespolizei Nordrhein-Westfalen”, sagte Marek, “oder etwas handlicher: Die SÜP.“

Ronny lachte kurz, rau und ohne Freude. “Das ist ein Scherz, oder?”

Marek erwiderte den Blick nicht: “Ich wünschte, es wäre einer.”

Die nächsten Stunden verschwammen in eine Abfolge von Fragen, Tests, Blutproben und Schweigen. Sie nahmen ihm Blut ab – oder versuchten es. Die Nadel traf, doch kaum ein Tropfen floss. Das, was kam, war zu dunkel, zu zäh, zu lebendig. Sie bestrahlten seine Haut mit UV-Licht – er zuckte zusammen, Rauch stieg auf. Sie prüften seine Reflexe, seine Körpertemperatur, seine Augenreaktionen.

Ronny saß irgendwann frisch eingekleidet wieder da, den Kopf in den Händen, während Marek in einem Ordner blätterte. “Sie haben kein Pulsbild, Kramer. Keine Atemfrequenz. Ihre Körpertemperatur liegt bei neunzehn Grad. Sie sollten klinisch tot sein.”

Ronny hob den Kopf, sah ihn an: “Und was bedeutet das?”

Marek schloss die Mappe. “Das bedeutet, dass Sie… sich verändert haben. Radikal. Und dass Sie etwas sind, das es laut offizieller Biologie nicht gibt.”

Er ging zum Tisch, stellte eine kleine silberne Schale darauf. Darin eine dünne Flüssigkeit, dunkelrot. “Wir haben etwas getestet. Ein paar Tropfen Blut, von einem Spender. Reines menschliches Blut. Versuchen Sie, nicht zu riechen, sondern einfach… zu fühlen.”

Ronny wollte protestieren, doch da war es schon da: Der Geruch. Der Klang. Das Schlagen eines fremden Herzens, einige Meter weit entfernt vielleicht in der Etage über ihnen. Der Hunger kam zurück, überwältigend, unaufhaltsam. Er musste sich anstrengen, um nicht über den Tisch zu springen. Marek sah es, ruhig, fast mit Mitleid. “Sie sehen? Sie brauchen es. Das ist keine Krankheit, Herr Kramer. Das ist eine… Umwandlung.”

Ronny lehnte sich zurück, erschüttert. “Ein Vampir?” Das Wort war lächerlich – und doch das Einzige, das passte. “So nennen es viele”, nickte Marek. “Wir sagen lieber: Subhumanoide Spezies mit hämatophager Persistenz. Aber ja. Das trifft es wohl.” Er setzte sich gegenüber. “Es gibt nicht viele wie Sie. Die meisten verlieren den Verstand nach der Verwandlung. Aber einige… behalten genug Bewusstsein, um nützlich zu sein. Und Sie, Ronny – Sie waren Polizist. Sie wissen, wie man in der Dunkelheit arbeitet.”

Ronny lachte heiser. “Sie wollen mich rekrutieren?”

Marek zuckte kaum merklich mit den Schultern. “Ich will, dass Sie überleben. Und dass Sie uns helfen, zu verstehen, was im Theater passiert ist.”

Der Name traf ihn wie ein Schlag.
Das Theater.
Seine Frau.

“Wo ist sie?” fragte er, plötzlich aufrecht. “Meine Frau, Koller wollte sie holen.”

Marek sah kurz zu einer jungen Beamtin, die an einem Terminal saß. Sie tippte, runzelte die Stirn, tippte weiter. Dann wurde ihr Gesicht blass.

“Chef… Meldung aus Duisburg-Ruhrort”, sagte sie. Sie winkte Marek zu sich. Etwas leiser fügte sie hinzu: “Die Kollegen berichten die Wohnung von Anna Kramer wurde aufgebrochen.”

Ronny konnte es hören und spürte, wie alles um ihn herum still wurde: “Und sie?” fragte er.

“Verschwunden,“ antwortete Marek mit Blick auf den Bildschirm, “Keine Spuren. Keine Zeugen. Nur…” Er hielt inne, reichte ihm ein Foto. Es zeigte die Wand des Schlafzimmers. Darauf, mit dunkler, eingetrockneter Flüssigkeit geschrieben:

“ERST SIE. DANN DU.”

Ronny stand auf. Seine Hände zitterten, nicht vor Angst, sondern vor Hunger, Wut, Entschlossenheit. “Dann fangen wir besser an, Marek”, sagte er leise, “Ich will alles wissen, was Sie über diese Schatten, diese Jäger, diese… Dinge wissen. Ist Adelino einer von euch?“

“Adelino?” Marek zog die Augenbrauen hoch und nickte dann langsam. “Sie werden alles erfahren, Kramer. Aber seien Sie gewarnt: Es gibt kein Zurück mehr.“

Ronny sah ihn an, die Pupillen schmal wie bei einem Tier: “Den Rückweg hab ich schon verloren, als ich wieder aufwachte.”

“Olga”, wandte sich Marek an die Beamtin am Rechner, “Gib Bea Bescheid. Ich und Kramer brechen Richtung Ruhrort auf. Treffen am Amtsgericht. Sie soll sich beeilen und unauffällig sein.”


Fortsetzung folgt…