Der Nice Guy soll Weltmeister werden!

Die aktuelle Formel 1 Saison geht dieses Wochenende mit dem Rennen in Las Vegas in die letzten drei Runden. Es ist die Saison, in der Lando Norris realistische Chancen hat, Weltmeister zu werden. Sechs Jahre lang schaue ich ihm jetzt schon dabei zu, wie er sich im Formel 1 Zirkus bewegt. Seit seinem Einstieg 2019 bei McLaren (auch wenn er 2018 schon als Test- und Ersatzfahrer im Paddock rumlief) begleitet er mich quasi jede Saison: Als nervöser Rookie, als der ewig “Nächste”, als der Typ, der ständig knapp an Siegen vorbeischrammt – und jetzt als Führender der Weltmeisterschaft vor Teamkollege Oscar Piastri und Max Verstappen.

McLaren hat 2024 den ersten Konstrukteurstitel seit 1998 geholt, die Basis gelegt, um 2025 voll auf den Fahrertitel zu gehen, und ist 2025 wieder Konstrukteurs-Weltmeister geworden. Noch 2017 war dieses Team fast am Ende der Tabelle, kaputt-analysiert und müde, mit dem schweren Erbe von Ron Dennis im Rücken. Dann kamen Zak Brown und Andreas Seidl (heute Andrea Stella) als Teamchefs und plötzlich hat McLaren Stück für Stück vorgemacht, wie ein modernes Formel-1-Team aussehen kann: Brutal ehrlich zu sich selbst, “constructively critical” (wie Brown es nennt), gleichzeitig offen, nahbar und fast schon nerdig in seiner Begeisterung. Für mich ist McLaren inzwischen das Gegenteil von dem, was Ferrari nach außen ausstrahlt: Weniger Mythos, weniger Pathos, dafür mehr Transparenz, Humor und dieses Gefühl, dass man als Fan Teil der Reise ist. Social Media, Dokus, behind the scenes, Fan-Events; das alles wirkt nicht wie Marketing-Fassade, sondern wie ein Team, das verstanden hat, dass ohne Fans dieser ganze Wanderzirkus ziemlich leer wäre. War das Team seit den Kämpfen von Schumi und Häkkinen Ende der Neunziger bei mir immer ein No-Go, so hat es sich nun zum meinem Lieblingsteam gemausert.

Und mittendrin Lando. Ein Fahrer, der fünf Jahre für seinen ersten F1-Sieg brauchte und bei dem im letzten Jahr der Knoten geplatzt ist. 2025 war zu Anfang an “sein” Jahr: Sieg in Australien, Podien en masse, konstant vorne, und jetzt vor Vegas als WM-Leader mit 24 Punkten Vorsprung. Und das alles nach einem Comeback aus einem großen Tief zur Mitte der Saison.

Aber wenn ich ehrlich bin, sind es nicht die Zahlen, wegen denen ich ihm seit Jahren die Daumen drücke. Lando ist für mich so etwas wie der Gegenentwurf zu diesem alten Formel-1-Bild vom eiskalten, egogetriebenen Topfahrer. Er ist offen, beinahe naiv, vor der Kamera. Er lächelt, macht Witze, streamt, baut sich seine Community auf. Und dann steht er plötzlich da und spricht im selben Atemzug über mentalen Druck, darüber, wie sehr ihn Fehler verfolgen, wie ihn Social Media fertig machen kann. Seit ein paar Jahren redet er öffentlich über mentale Gesundheit, darüber, wie schwer dieses Leben als junger Fahrer sein kann, wenn du eigentlich jedes Wochenende perfekt funktionieren musst, vor Millionen von Augen. In einer Welt, in der noch immer Ex-Fahrer und Journalisten am liebsten den harten Hund feiern, wird er dafür gerne mal belächelt, kritisiert und beleidigt – zu weich, zu emotional, ein Jammerlappen, nicht “tough genug”. Genau das macht ihn für mich aber so wichtig. Er zeigt eine verletzliche Seite, die sonst in diesem Sport fast nie sichtbar ist!

Ich mag, dass er trotzdem nicht in dieses “ich muss jetzt auch ein Arschloch werden, um Champion zu werden”-Narrativ kippt. Er sagt seit Jahren, dass er beweisen will, dass man erfolgreich sein kann, ohne alle Brücken hinter sich abzufackeln und anderen auf und neben der Strecke vor den Kopf zu stoßen und Psychospielchen zu spielen. Gerade 2024 und 2025 mit Piastri an seiner Seite wirkt das wie ein Gegenmodell zu den klassischen Alphatier-Duellen, die es früher gab. McLaren betont öffentlich, dass beide Fahrer “gleichberechtigte Nummer 1” sind, und trotzdem wirkt das Team nicht gespalten, sondern erstaunlich geschlossen. Natürlich gibt es Spannungen, das bleibt in einem WM-Kampf nicht aus, aber bislang fühlt es sich so an, als ob die Kultur, die Brown und Stella aufgebaut haben – dieses “wir kritisieren uns hart, aber fair” – auch durch die Art, wie Lando führt, getragen wird. Nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Interessant zu beobachten, dass sich quasi jedes Motorsport-Newsportal daran abarbeitet, dass so etwas ja nicht zielführend sei und nur auf jeden kleinsten Fehler wartet, um sich bestätigt zu sehen. Für mich nicht nachvollziehbar.

Vielleicht ist es genau das, was mich an dieser Saison so berührt: Dass sich hier gleich zwei Dinge überlappen. Einerseits das sportliche Ding: McLaren, das Team, das sich aus dem Tal nach ganz oben gearbeitet hat, letztes Jahr Konstrukteurs-Weltmeister, dieses Jahr wieder vorne, mit einem Auto, das auf fast allen Strecken funktioniert. Andererseits Lando, das „Meme-Kid“ und der Twitch-Streamer in der Formel 1, der jetzt mit einer Mischung aus Talent, Konstanz und immer mehr wachsender mentaler Stärke kurz davor steht, etwas zu schaffen, wovon er schon als Kartfahrer geträumt hat.

Während Las Vegas, Katar und Abu Dhabi vor der Tür stehen und die Medien jedes mögliche Szenario durchrechnen, habe ich bei ihm das Gefühl, dass er mehr denn je in sich ruht. Nach seinem Sieg in Australien, der Pole und dem Sieg für McLaren in mehreren Schlüsselrennen dieser Saison hat er immer wieder betont, dass der WM-Stand zweitrangig sei, dass es um saubere Arbeit von Wochenende zu Wochenende geht. Er schalte bewusst die Anzeige seiner Rundenzeiten im Cockpit ab und fahre einfach. Er konsumiert keine Inhalte mehr auf Social Media. Vielleicht ist das alles Mediensprech, aber ehrlich gesagt: Nach allem, was wir die letzten Jahre gesehen haben, nehme ich ihm ab, dass er einfach gelernt hat, sich selbst zu schützen. Weniger Social-Media-Doomscrolling, mehr Fokus auf das Team, auf sein Umfeld, was ihm guttut.

Für mich als Fan ist das aktuell ein sehr emotionales Saisonfinale – ich will, dass der “Nice Guy” Weltmeister wird – mit einem Team, das sich bewusst von dieser alten, toxisch-männlichen Siegerromantik abgrenzt und zeigt, dass Erfolg auch anders geht.

Aber egal wie es ausgeht: Für mich hat er mit dieser Saison schon bewiesen, dass er ein Vorreiter ist und die Formel 1 besser macht.

PS: Das Titelbild zeigt übrigens mich in meiner Jugend, schon damals großer F1-Fan, mit meinem Michael Schumacher Fanshirt.