Retro-Adventure: The Colonel’s Bequest

Nach meiner wunderbaren Zeit mit dem auf alt gemachten The Crimson Diamond im April und Mai, war es für mich eine logische Entscheidung, mich dem “geistigen Vorfahren” dieses Spiels zuzuwenden: The Colonel’s Bequest von Sierra. Und was soll ich sagen – ich bin tief beeindruckt. Nicht, weil das Spiel perfekt wäre. Ganz im Gegenteil. Sondern weil es etwas wagt, was selbst viele moderne Adventures sich nicht trauen: Es stellt die Geschichte über den Spieler.

The Colonel’s Bequest wurde 1989 von Roberta Williams entwickelt, einer der wichtigsten Figuren der frühen Adventure-Ära – zurecht als „First Lady of Adventure Games“ bekannt. Während ihre King’s Quest-Reihe mit dafür verantwortlich war, Text-Adventures visuell erlebbar zu machen, hat sie mit The Colonel’s Bequest ein ganz anderes Experiment gewagt.

Ein Adventure als Theaterstück

Die Handlung spielt im Jahr 1925. Wir schlüpfen in die Rolle von Laura Bow, einer jungen Journalismusstudentin aus New Orleans. Ihre Freundin Lillian lädt sie zu einem Familientreffen in das abgelegene Anwesen ihres Onkels Henri ein. Kaum angekommen, verkündet der exzentrische Colonel, dass er sein Vermögen unter allen Anwesenden aufteilen will – außer Laura. Und sollte sich die Zahl der Erben bis zu seinem Tod verringern, bekommt natürlich jeder mehr. Statt Freude bricht sofort Misstrauen und Gier aus. Eine mörderische Nacht beginnt.

Was dieses Spiel so faszinierend macht, ist sein Aufbau: Es ist in acht Akte gegliedert, jeweils eine Stunde Ingame-Zeit umfassend – aber ohne echten Zeitdruck. Stattdessen schreitet die Zeit immer dann voran, wenn Laura ein wichtiges Ereignis beobachtet. Es ist also möglich, das Spiel durchzuspielen, ohne viel davon mitzubekommen. Und genau das ist der Clou.

Zusehen statt eingreifen

Anders als in typischen Adventures liegt Lauras Aufgabe nicht darin, Rätsel zu lösen. Sie beobachtet. Sie nimmt Notizen, wenn sie Gespräche belauscht, Spuren entdeckt oder einfach nur zufällig Zeugin eines geheimen Treffens wird. Das Spiel bewertet am Ende nicht, ob du den Mörder enttarnt hast – sondern, wie gründlich du recherchiert hast. Ob du in die richtigen Räume geschlichen bist, zur richtigen Zeit am richtigen Ort warst.

Das hat eine ganz andere Energie als klassische Point-and-Click-Abenteuer. Es ist fast schon voyeuristisch. Du spähst durch Schlüssellöcher, versteckst dich hinter Vorhängen, lauschst nächtlichen Gesprächen – und jedes Mal wächst das Bild eines düsteren Familiendramas ein Stück mehr zusammen.

Klassische Tropen, mutige Struktur

Die Charaktere sind klischeehaft – der mürrische alte Mann, die verführerische Schauspielerin, der schweigsame Butler – aber genau das passt zum Ton. Das Spiel wirkt wie eine interaktive Agatha-Christie-Adaption, mit einem Hauch Southern Gothic und reichlich morbider Atmosphäre. Und obwohl man sich über die Oberflächlichkeit der Figuren streiten kann, liegt der Fokus ohnehin auf der Struktur, nicht auf tiefen Charakterentwicklungen.

The Colonel’s Bequest ist nicht darauf ausgelegt, dass du alle Antworten bekommst. Im Gegenteil: Viele Zusammenhänge bleiben diffus. Es gibt keinen klaren Höhepunkt, keinen finalen Monolog des Mörders. Stattdessen: Eine Welt voller Andeutungen, Geheimnisse und nur lose verknüpfter Hinweise. Und genau das macht den Reiz aus.

Für 1989 ist das revolutionär. Während viele Adventures damals streng linear waren, lässt dir The Colonel’s Bequest völlige Freiheit. Du kannst stundenlang herumschnüffeln oder die Ereignisse an dir vorbeiziehen lassen. Und obwohl es kaum klassische Rätsel gibt, fühlt sich das Spiel nicht leer an – sondern fordernd, weil es dein Gespür für Timing, Neugier und Beobachtungsgabe testet.

Dass Laura nicht stirbt, wenn du etwas übersiehst, ist ebenfalls bemerkenswert. In einer Zeit, in der viele Sierra-Spiele gnadenlos mit „Game Over“-Bildschirmen um sich warfen, war dies fast schon ein Akt der Gnade – und zugleich ein Zeichen dafür, dass hier andere Spielprinzipien gelten.

Vorgänger für The Crimson Diamond

Nach meiner Reise mit The Colonel’s Bequest sehe ich The Crimson Diamond noch einmal mit neuen Augen. Das Spiel von Julia Minamata zollt nicht nur optisch, sondern auch erzählerisch Tribut – aber mit modernen Komfortfunktionen und einem etwas zugänglicheren Spielfluss.

The Colonel’s Bequest ist ein faszinierendes Stück Spielegeschichte, was ich viel zu spät für mich entdeckt habe. Ich empfehler außerdem die Stay Forever Folge zum Spiel.