Die alten Holzstufen ächzten unter meinem Gewicht, das Knacken der Treppe war im ganzen Flur zu hören. Wenn ich zu der Wohnung negative Punkte nennen sollte, dann war es vor allem die Tatsache, dass sie sich ganz oben im dritten Stockwerk befand und der Altbau sehr hohe Decken hatte. Zwei Etagen noch. Die Bäckerei im Erdgeschoss hatte diesen Nachmittag zwar schon geschlossen, aber der Duft von frisch gebackenen Brötchen und Broten erfüllte die Luft noch immer. Genau genommen kann ich mich an keinen Besuch hier erinnern, an dem ich diesen wohligen Geruch nicht wahrgenommen habe. Die Bewohner waren ihm dauerhaft ausgesetzt und einige von ihnen verleidete er mittlerweile regelrecht den Appetit. Für mich unverständlich.
Eine Etage noch. Meine Tasche mit Unterlagen zog mich regelrecht nach unten, mit jeder Stufe spürte ich meine Oberschenkel stärker. “Das kann doch nicht sein, dass mir die paar Stufen dermaßen zu schaffen machen; da muss sich was ändern!”, dachte ich mir jedes Mal, wenn ich hier war.
Noch zwei.
Noch eine.
Geschafft! Nun einmal tief durchatmen. Durch die angelehnte Wohnungstür hörte ich schon die Stimmen der anderen und das Knistern von Chipstüten – meine Aufregung nahm zu.
Neun Stunden später saßen wir immer noch im Wohnzimmer. Vorgebeugt über den quadratischen Tisch, der voll stand war mit Getränken, Snacks, Schmierzetteln, Karten und Stiften. Bedrohliche Musik ertönte aus den Lautsprechern. Draußen war es inzwischen so dunkel, dass man den Regen nur noch durch das Geräusch mitbekam, das die auf der Fensterscheibe zerplatzenden Tropfen verursachten.
Wir alle waren angespannt: Einer von uns hatte gerade einem alten Mann das Gesicht weggepustet, die anderen verteilten Dynamit, um diesen Ort hier zum Einsturz zu bringen. Einige weitere Minuten später war das Dynamit gezündet, die Polizei in die Irre geführt und das ganze Unterfangen wohlbehalten überstanden .
In unserer momentanen Wirklichkeit befanden wir uns nicht im Jahr 2017 in einer Wohnung im Zentrum von Duisburg – nein: Wir erkundeten gerade im Jahr 1924 einen verlassenen Bergbauschacht im Norden der Stadt. Wir waren auf der Suche nach Spuren eines rätselhaften Mordes. Es war ein Mord, den ich nicht nur geplant, sondern auch durchgeführt hatte. Das alles war meine Geschichte – und gleichzeitig mein erstes Rollenspielabenteuer, was ich nicht nur geleitet, sondern auch selbst geschrieben hatte.
Zurück in der Gegenwart
Es ist inzwischen über ein Jahrzehnt her, dass ich zum ersten Mal in die Welt der Pen & Paper-Rollenspiele eingetaucht bin. Im Vergleich zu vielen anderen kam ich relativ spät zu diesem Hobby. Mein Einstieg war die “Spitze Stifte”-Reihe von Rocket Beans TV. Von dort war der Weg zu Orkenspalter TV, dem Tanelorn-Forum und schließlich zu Critical Role nicht weit – und mit jedem neuen Format wuchs mein Interesse und meine Begeisterung.
2017 war es dann so weit: Ich wagte mich zum ersten Mal selbst hinter den Spielleiterschirm. Wie man einleitend lesen konnte, sind die Erinnerungen daran auch heute noch sehr lebendig.
Seitdem ist viel passiert. Ich habe unzählige Systeme ausprobiert, verschiedene Spielgruppen begleitet und geleitet, und dabei eine Vorliebe für abwechslungsreiche One-Shots entwickelt, die ich mehr oder weniger regelmäßig pro Quartal veranstalte. Daneben liebe ich es, tief in Kampagnenwelten einzutauchen – mit allem, was dazu gehört: Dramaturgie, Atmosphäre und das langsame Entfalten von Geschichten über Monate – oft Jahre – hinweg.
Besonders intensiv hat mich dabei Call of Cthulhu begleitet, das mittlerweile zu meinem primären System geworden ist. Kampagnen leite ich heute fast ausschließlich dort – von “Königsdämmerung” bis hin zur laufenden “Masken des Nyarlathotep” Kampagne: Bald habe ich zwei der drei größten Abenteuer des Mythos durch. Aber auch in Dungeons & Dragons, Dungeon Slayers, Das Schwarze Auge und Vampire: The Masquerade habe ich bereits Kampagnen geleitet.
Die Spielleiterrolle fasziniert mich, macht mir unheimlichen Spass. Doch gelegentlich finde ich auch Zeit, selbst mitzuspielen – zum Beispiel in einer D&D 5E-Gruppe, mit der wir bereits “Abstieg nach Avernus” gemeistert haben und nun in “Rime of the Frostmaiden” stecken. Auch bei Candela Obscura bin ich aktuell Teil einer lockeren Kampagne.
Bei all den verschiedenen Systemen und Erlebnissen kommt natürlich immer wieder die Frage auf: “Was sind eigentlich deine Lieblingssysteme?” Und genau darum soll es in diesem Beitrag gehen. Ich möchte euch meine ganz persönlichen Lieblinge der Rollenspielsysteme und -welten vorstellen – die Spiele, die mich am meisten inspiriert, bewegt und begeistert haben.
Mein System für alle Lebenslagen
Ihr werdet es euch vielleicht schon denken: Wenn ich ein System benennen müsste, das sich wirklich für jede Gelegenheit eignet – sei es für einen spontanen Oneshot, einen atmosphärisch dichten Fewshot oder eine epische Kampagne über Monate hinweg – dann fällt meine Wahl ohne Zögern auf Call of Cthulhu.
Was mich an diesem Spiel seit jeher fasziniert, ist die einzigartige Mischung aus düsterer Atmosphäre, unterschwelligem Wahnsinn und dem allgegenwärtigen Gefühl, dass manche Geheimnisse besser unentdeckt bleiben. Es ist ein Spiel, das nicht auf heldenhafte Taten ausgerichtet ist, sondern auf menschliche Figuren, die mit dem Unbegreiflichen konfrontiert werden – und genau das macht es so spannend.
Besonders charmant finde ich die Einsteigerfreundlichkeit: Die Charaktererschaffung ist angenehm unkompliziert, das Regelsystem bleibt schlank und zugänglich, ohne dabei Tiefe zu verlieren. Neue Spieler müssen keine ganze Fantasywelt verinnerlichen – sie spielen in unserer Welt. Und trotzdem fühlt sich alles leicht fremd und bedrohlich an.
Mein persönlicher Favorit ist ganz klar das klassische Setting der 1920er Jahre (“Jazz-Ära”): Die Mischung aus dampfenden Straßen, aufkommender Moderne und okkultem Flüstern im Hintergrund trifft für mich genau den richtigen Ton. Aber auch andere Zeitlinien wie Cthulhu Now in der Gegenwart bieten fantastische Möglichkeiten, um Geschichten zwischen Alltagsrealität und kosmischem Grauen zu erzählen.
Storyintensiv und komplex
Wenn es um tiefgründige Geschichten, moralische Grauzonen und komplexe soziale Dynamiken geht, gibt es für mich ein System, das wie kein zweites in diese Kerbe schlägt: Vampire: The Masquerade. Dieses Spiel ist ein Paradebeispiel dafür, wie intensiv und vielschichtig Pen & Paper-Rollenspiel sein kann – vorausgesetzt, man ist bereit, viel zu lernen und sich darauf einzulassen.
Gespielt wird mit dem sogenannten Storyteller-System, das auf das Erzählen einer gemeinsamen Geschichte ausgelegt ist. Klassische, lineare Abenteuer sind hier die Ausnahme – stattdessen bewegt man sich durch offene Sandboxes, in denen die Spieler als Vampire der World of Darkness agieren. Intrigen, persönliche Konflikte und politische Machtspiele sind dabei eher die Regel als die Ausnahme.
Diese Offenheit verlangt sowohl der Spielleitung als auch den Spielern einiges ab. Zwar spielt das Ganze oberflächlich in unserer Welt, doch unter der Oberfläche lauert eine düstere Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln, Kodizes und einem jahrhundertealten Netz aus Fraktionen und Feindschaften. Wer hier Fuß fassen will, muss sich einarbeiten: Die Struktur der Vampirgesellschaft, die Clans, Disziplinen, Traditionen – all das will verstanden und verinnerlicht werden. Doch wer diesen Aufwand nicht scheut, wird belohnt.
Denn wenn alles zusammenkommt dann entstehen in Vampire: The Masquerade Sessions, die mehr an eine Theaterinszenierung erinnern als an klassisches Würfelspiel. Aufgrund seiner Komplexität empfehle ich das System vor allem für langfristige Kampagnen. In diesem Format gehört es für mich zu den stärksten und faszinierendsten Rollenspielerfahrungen überhaupt.
Intensiv und kurz
Nicht jedes Rollenspiel muss über Monate oder Jahre laufen, um Eindruck zu hinterlassen. Manche Systeme schaffen es, in nur einer Session eine dichte, emotionale und in sich geschlossene Geschichte zu erzählen – und genau das macht ihren Reiz aus. In der Kategorie “Intensiv und kurz” möchte ich daher gleich zwei Systeme hervorheben, die besonders gut für atmosphärisch starke Oneshots geeignet sind: Candela Obscura und Powered by the Apocalypse – konkret im Setting So tief die schwere See.
Candela Obscura, das auf dem Illuminated Worlds-System basiert, ist ein vergleichsweise junges System, das es geschafft hat, mit wenig Regeln viel Atmosphäre zu schaffen. Es kombiniert okkulte Mystery-Themen mit einem Art Deco Flair und bietet dabei genau den richtigen Mix aus Charakterspiel, Spannung und Regelklarheit. Besonders hervorzuheben ist, dass Candela Obscura konsequent auf kurze, abgeschlossene Missionen ausgelegt ist – ideal also für Oneshots. Die Charaktererstellung ist schnell erledigt, und schon nach wenigen Minuten kann man sich in die düsteren Straßen der Stadt begeben, um das Übernatürliche zu bekämpfen.
Ganz anders, aber mindestens ebenso wirkungsvoll ist Powered by the Apocalypse, das als Spielsystem gleich eine ganze Reihe von erzählerisch getriebenen Spielen hervorgebracht hat. Besonders ans Herz gewachsen ist mir hier das Setting So tief die schwere See: Eine melancholische, historisch angehauchte Welt voller unterschwelliger Konflikte, stürmischer See und tragischer Schicksale. Auch hier steht nicht die Mechanik im Vordergrund, sondern das Erzählen – Konflikte werden nicht immer direkt ausgewürfelt, sondern gemeinsam ausgehandelt, wobei die Regeln gezielt Drama und Spannung fördern.
Was beide Systeme verbindet: Sie sind ideal für intensive Kurzformate. Die Charaktere sind schnell erstellt, die Regeln leicht zu erfassen – und doch bieten sie genug Tiefe, um in kurzer Zeit echte emotionale Wucht zu entfalten. Ob düstere Detektive in Candela Obscura oder verzweifelte Seeleute in So tief die schwere See – wer nach einem Rollenspiel sucht, das sich an einem Abend vollständig erleben lässt, liegt hier genau richtig.
Exotische Experimente
Nicht jedes Rollenspiel passt in ein klassisches Raster. Manche Systeme sind so anders, so radikal in ihrem Design oder Tonfall, dass sie sich kaum mit “normalen” Spielgewohnheiten vergleichen lassen. Zwei solcher besonderen Systeme sind für mich One Last Job und Lamentations of the Flame Princess.
One Last Job ist in vielerlei Hinsicht eine völlige Abkehr von dem, was ich sonst gewohnt bin. Planung? Vorbereitung? Storystrukturen? Kaum bis gar nicht vorhanden. Dieses System lebt vom Improvisieren aller – Spielleiter wie Mitspieler. Es verlässt sich darauf, dass die Gruppe gemeinsam eine großartige, filmreife Geschichte aus dem Boden stampft. Die Charaktere entstehen erst während des Spiels, in Rückblenden und durch gegenseitiges Erzählen. Man wirft sich Ideen zu, ergänzt, widerspricht, übertreibt – alles für das große Ziel: Den allerletzten Coup. Als Spielleitung muss man bereit sein, Kontrolle abzugeben und sich treiben zu lassen. Es war für mich anfangs absolut ungewohnt, aber genau das machte den Reiz aus. Wer sich auf dieses erzählerische Chaos einlässt, kann dabei sehr gut unterhalten sein.
Ganz anders – aber nicht weniger außergewöhnlich – ist Lamentations of the Flame Princess. Dieses System fällt in die Kategorie “Weird Fantasy”, und das mit Nachdruck. Es basiert zwar auf Old-School-D&D-Mechaniken, aber der Inhalt ist alles andere als klassisch. Die Abenteuer reichen von abgründig verstörend bis grotesk absurd – mit einem ständigen Unterton von “Was zum Teufel habe ich da gerade gelesen?” Die Szenarien brechen gezielt mit Erwartungen, setzen oft auf verstörende Bilder, existenziellen Horror, Sexualität und schrägen Humor. Kein Spiel für Zartbesaitete, aber ein echtes Erlebnis, wenn man Lust auf etwas völlig Abgefahrenes hat. Allein die Welt, die im Szenarioband “Veins of the Earth” aufgemacht wird, kann für Albträume sorgen.